David gegen Goliath

Bürgerinitiative – Fast jeder Bonner Studierende saß schonmal im Café Blau, hat im Blow Up gefeiert oder eine Hausarbeit in einem Copy-Shop im Viktoriakarree drucken lassen. Das könnte bald vorbei sein, wenn dort ein Einkaufszentrum entsteht. Doch: Die Anwohner wehren sich.

von Johanna Dall’Omo

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Kleine Geschäfte mit Herz oder große Konsumketten? Diese Frage stellt sich in Bonn zurzeit an fast jeder Ecke. Zuerst musste die Buchhandlung Bouvier schließen, dann verlor Bonn sein traditionsreiches Schreibwarengeschäft Carthaus, das Café Göttlich und vor kurzem auch das Café Goldbraun. Die Gründe für die Schließungen mögen unterschiedlich gewesen sein und doch tragen sie dazu bei, dass das Bonner Stadtbild sich wandelt. Die nächste große Veränderung, in unmittelbarer Nähe zu unserer Uni, soll das Einkaufszentrum »Kaufhaus Viktoria« sein, das im Viktoriakarree entstehen könnte. Dieser Fall spaltet seit Monaten die Gemüter. Insbesondere zeigt er aber, was Bürger bewegen können, wenn sie sich für ihren Lebensraum, ihre Geschäfte und ihre Existenz einsetzen.

Begonnen hat alles am 18.06.2015, als der Bonner Stadtrat mit mehrheitlichem Beschluss für den Verkauf der städtischen Grundstücke des Viktoriakarrees an eine Tochtergesellschaft der SIGNA stimmte. Diese plant dort eben jenes »Kaufhaus Viktoria«. Problematisch ist, dass die SIGNA die Ausschreibung für dieses Bauprojekt mit nur 2,5 von 6 Punkten gewonnen hat. In der Uni wäre man damit gnadenlos durchgefallen. Da keiner der beiden Bewerber die Erwartungen des Rates voll erfüllte, sprachen sich u. a. die Grünen, die dagegen stimmten, für eine Aufhebung der Ausschreibung aus. Aber die SIGNA bekam den Zuschlag, so war sie wohl von den Beiden das kleinere Übel. Im Folgenden gab es Anschuldigungen der Grünen, die Stadt hätte dem Verkauf und somit der Mall schon seit Jahren zugearbeitet. Hierfür spricht, dass die SIGNA schon seit 2012 auf ihrer Internetseite das »Kaufhaus Viktoria« bewirbt. Auch früher geriet Österreichs größtes privat geführtes Immobilienunternehmen immer wieder in die Schlagzeilen. Die undurchsichtigen Strukturen der Firma, der unter anderem die Karstadt Warenhaus GmbH gehört, sorgen immer wieder für Verdächtigungen. So sollen z.B. innerhalb der SIGNA-Gruppe Immobilien gewinnbringend hin- und hergeschoben werden. Nachzuweisen ist jedenfalls, dass die SIGNA Steuern über Luxemburg hinterzogen und so gespart hat. 2012 wurde Gründer René Benko außerdem wegen Korruption verurteilt, er hatte versucht ein Gerichtsverfahren mit Schmiergeldern zu seinen Gunsten zu manipulieren. Man kann nicht genau sagen, was passiert ist, aber dieses Projekt bietet definitiv Konfliktpotenzial.

Um das Einkaufszentrum zu verhindern und das Viertel zu retten, gründeten die Menschen, die dort leben und arbeiten, die »Viva Viktoria!«-Initiative. Es gehe ihnen hierbei nicht nur um die bloße Ablehnung des Einkaufszentrums, sondern um die Tatsache, dass die Bonner Bürger an dieser Entscheidung in keiner Weise beteiligt wurden. Um dies nachzuholen hat die Gruppe ein Bürgerbegehren angemeldet. Mit einer bestimmten Anzahl an Stimmen aus der Bevölkerung, in diesem Fall knapp 10.000 Unterschriften, kann die Entscheidung des Rates angezweifelt werden. Ziel ist es, dass der Rat seinen Entschluss zurücknimmt und anschließend, gemeinsam mit den Bürgern, an neuen Konzepten für das Viktoriakarree arbeitet. Sollte der Rat dennoch daran festhalten, kommt es zu einem Bürgerentscheid, bei dem alle Wahlberechtigten Bonns über die Zukunft des Viertels entscheiden könnten.

Und so wurden die letzten Wochen fleißig Unterschriften gesammelt, es gab wöchentlich Demos, eine Internet- und eine Facebookseite mit allen wichtigen Informationen. Sogar ein Lied wurde zu Ehren des Viktoriakarrees gedichtet. Die Melodie dazu kommt vom bekannten Karnevalslied »Viva Colonia«: »Da simmer dabei, dat is priima, Viva Viktoria! Wir lieben das Blow Up, das Bergfelds und das Blau! Wir brauche’ keine Shopping Mall, dat wisst ihr janz jenau!«

Die letztendlich 18.828 gesammelten Unterschriften beweisen, dass viele Bonner hinter der Idee von »Viva Viktoria!« stehen. Nach dem Einreichen der Dokumente bittet ein offener Brief den Stadtrat, den Stimmen der Bürger nachzukommen und gemeinsam an einer Zukunft des Viktoriakarrees zu arbeiten. Hierfür tüftelt die Initiative mit einer Projektgruppe schon an einem neuen Konzeptvorschlag. Der Brief soll aber auch die Entschlossenheit der Initiative zeigen, im Ernstfall auch den Bürgerentscheid anzugehen.

Neben der Tatsache, dass die Bürger bei diesem Verkauf nicht einbezogen wurden, geht es »Viva Viktoria!« auch um das, was das »Kaufhaus Viktoria« für das Viertel bedeuten würde. In einer Pressemitteilung der Gruppe heißt es: »Wir wenden uns gegen eine Totalüberbauung des gesamten Viertels und seine radikale Durchkommerzialisierung auf Kosten der jetzigen NutzerInnen.«

Argumente für oder gegen ein Einkaufszentrum in Sichtweite der Universität gibt es viele. So soll die Uni dort beispielsweise eine große neue philologische Bibliothek bekommen. Damit will SIGNA der Bedeutung Bonns als Studierendenstadt nachkommen. Unter dem Karree soll außerdem eine Tiefgarage entstehen, die mit der Marktplatzgarage verbunden werden soll. Die Kosten dafür soll zum großen Teil der Investor tragen. So kann der Verkehr auf der Stockenstraße und der Rathausgasse reduziert werden. Eine neue Ladenpassage, neue Wohnungen und viele neue Läden, wie die zu erwartende Elektronikmarktkette mit dem Planetennamen, klingen für manche erst einmal verlockend. Und doch gibt es laut »Viva Viktoria!« auch viele Nachteile. Ein solcher Komplex werde das Bild der Uni und deren Umgebung deutlich verändern. Der Grüne Politiker Hartwig Lohmeyer gab schon beim Verkauf die Höhe der geplanten Mall zu bedenken: diese werde das Uni-Hauptgebäude um einiges überragen. Auch das studentische Leben würde sich verändern. Statt im Café Blau mit Kommilitonen in der Sonne zu sitzen, gäbe es einen Coffee to go bei einer anonymen Café-Kette. Mit dem Blow Up verschwindet eine weitere Möglichkeit mit Freunden abends wegzugehen, ausgerechnet in Bonn, wo das Nachtleben für Studenten schon jetzt wenig zu bieten hat. Solche studentischen Institutionen müssten anderen Geschäften weichen.

Die Pläne der Shoppingmall sehen außerdem vor, dass 27 der 70 Wohnungen im Viertel wegfallen sollen. Schwierig im so schon hart umkämpften Wohnungsmarkt der Innenstadt. Es ist abzusehen, dass auch der Einzelhandel in der Innenstadt darunter leiden wird, wenn man die Shopping Mall dank Tiefgarage und großem Angebot nicht mal mehr verlassen muss. Es sind dann wohl weitere Schließungen in der Innenstadt zu befürchten. Dieser Meinung ist auch Grünen-Politiker Lohmeyer. Die Realisierung des SIGNA-Entwurfes würde die Bonner Innenstadt nicht attraktiv erweitern, sondern stattdessen eine stadtinterne Konkurrenz bedeuten, die den Einzelhändlern in der City zusätzlich das Leben schwer macht.

Das Viktoriakarree hat aktuell, neben Gastronomie und Einzelhandel, auch noch einiges mehr zu bieten, was es erhaltenswert macht. So gibt es z.B. das Stadtmuseum und die Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus, für die ebenfalls ein Umzug vorgesehen wäre. Auch das große denkmalgeschützte Fenster des Viktoriabades ist einmalig und sollte unbedingt gewürdigt werden. Die SIGNA sieht zwar vor, das Fenster von innen zu beleuchten, nach ihren Plänen würden sich dahinter jedoch keine Geschäfte, sondern eventuell Aufzüge oder ähnliches befinden.

Das Für und Wider der Mall muss jeder für sich selbst abwägen und sich so seine Meinung zum »Kaufhaus Viktoria« bilden. Abschließend bleibt jedoch die Frage, wem die Stadt gehört und wer deren Gestaltung mitentscheiden darf. Die Bürgerinitiative »Viva Viktoria!« hat ihre Antwort gefunden und wird diese wohl bis zum bitteren Ende vertreten.

»Sinnflut« für die Fußgängerzone

Bürgerinitiative – Drei Studentinnen wehren sich gegen das Café-Sterben in der Bonner Innenstadt – nicht nur mit einer Facebookseite. Die ehemaligen Mitarbeiterinnen des Café Goldbraun haben Größeres im Sinn.

von Sophie Leins

Sarah Waschke, Vesna Schierbaum und Julia Ihde vor dem geschlossenen Café Goldbraun (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Sarah Waschke, Vesna Schierbaum und Julia Ihde vor dem geschlossenen Café Goldbraun (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Wer derzeit aus dem Hauptgebäude in Richtung Fußgängerzone auf die gegenüberliegende Fürstenstraße blickt, dem präsentiert sich in der ehemaligen Flaniermeile ein trauriges Bild: links die leerstehende Buchhandlung Bouvier, dahinter eine Baustelle und rechts die zugeklebten Scheiben des Café Goldbrauns, eines weiteren privaten Cafés (nach dem Göttlich), das dicht machen musste. Mit der verwaisten Fürstenstraße, die wegen Baulärm und Franchise-Ketten kaum noch zum Verweilen einlädt, stirbt ein weiteres Stück Kaffeekultur in der Bonner Innenstadt. Immer mehr kleine, individuelle Cafés und Geschäfte können bei den steigenden Mieten nicht mehr mithalten und werden durch unpersönliche Ketten, Klamottenriesen und austauschbare Backshops verdrängt.

Kulturcafé statt Konsumdrang
Doch genau diese Entwicklung wollen drei Bonner Studentinnen, die bis vor kurzem noch im Café Goldbraun hinter der Theke standen, nicht mehr hinnehmen und gründeten deshalb die Bürgerinitiative »Freie Kaffeekultur Bonn«. Diese prangert die kulturelle Verarmung der Bonner Innenstadt an und will ihr entgegentreten – durch die Gründung eines individuellen Cafés mit Charme. Mit ihrer Initiative haben Vesna Schierbaum, Julia Ihde und Sarah Waschke einen Nerv getroffen. Seit August hat ihre Facebook-Seite über 1000 Likes bekommen, der General-Anzeiger und die WDR Lokalzeit berichteten.

An einem grauen Oktoberabend treffen sich Vesna, Julia und Sarah mit der AKUT im Café Blau, eine der letzten Café-Alternativen, direkt um die Ecke ihres ehemaligen zweiten Zuhauses. Die drei jungen Frauen erzählen, wie es zu der Idee kam. Als sie im Sommer erfahren haben, dass das Goldbraun schließe, seien sie und ihr Freundeskreis – allesamt Mitarbeiterinnen oder Stammkundschaft des Cafés – nicht nur total niedergeschlagen, »sondern auch ein bisschen wütend« gewesen über das, was da gerade passiere, erklärt Julia. Sie ist Master-Studentin der Philosophie, 24 Jahre alt und so eloquent, dass man ihr gut und gerne einen Posten als Pressesprecherin zutraut.

Vor allem stand für die Gruppe aber die Frage im Raum, wo sie denn in Zukunft überhaupt noch gemeinsam abhängen sollten. Nach der Schließung der günstigen Studi-Cafés Göttlich und Goldbraun sei schließlich selbst unser Treffpunkt, das Café Blau, durch den geplanten Abriss des Viktoriaviertels bedroht. Aber warum ging das beliebte Café Goldbraun überhaupt pleite, wo es sich doch in idealer Lage zwischen Uni und Fußgängerzone befand?

Vesna, 23 Jahre, studiert in Köln Medienkulturwissenschaft und hat bereits das Auftreten einer selbstsicheren Geschäftsfrau. Sie nennt folgende Hauptgründe für die Schließung des Goldbrauns: Erstens sei die Straßensituation durch den Baulärm und den Wegfall von Bouvier immer weniger attraktiv geworden. Zweitens sei aber auch ihr ehemaliger Arbeitgeber mitschuldig, der eine lange Liste an Fehlern begangen habe. So habe das Goldbraun zum Beispiel lange keine Außengastronomie gehabt – und das an einem Traumstandort. Außerdem hätte man nach dem Schluss vom Göttlich durch den Verkauf von Alkohol und längere Öffnungszeiten dessen Publikum binden müssen.

»Wir wollen eine Institution werden«
Doch die drei wollen sich nicht beschweren, sondern es stattdessen einfach besser machen. Die Bürgerinitiative soll nämlich nicht nur über den traurigen Trend berichten, sondern hat ein ganz konkretes Ziel: die Eröffnung eines alternativen Kunst- und Kulturcafés mit dem Namen »Café Sinnflut«. Bei aller Kritik wollen sie dabei eines genauso beibehalten wie im Café Goldbraun: »Wir wollen richtig, richtig guten Kaffee machen – nach Latte-Art«, meint Julia, denn das sei in der Bonner Innenstadt eine Lücke. Das Konzept unterscheidet sich ansonsten aber deutlich vom Goldbraun.

Das neue Café Sinnflut soll auch abends geöffnet sein und eine Plattform für unbekannte Künstler und Musiker darstellen. Tagsüber wird es Ausstellungen geben und abends sind Konzerte, Jamsessions, Lesungen und Diskussionen geplant, erklärt Sarah. Die 23-jährige Kunstgeschichte-Studentin näht in ihrer Freizeit Stoff-Vulven. Auch viele ihrer Freunde sind Teil der jungen kreativen Szene Bonns. An Tatendrang und Motivation fehlt es ihr und ihren beiden Mitstreiterinnen also nicht. »Jeden Tag kommen uns neue megageile Ideen«, meint Vesna begeistert. Für das Café Sinnflut hat sie eine Vision: »Wir wollen eine richtige Institution werden.«

70.000 € Startkapital – dank Crowdfunding könnte es klappen
Gute Ideen sind ja eine schöne Sache, aber damit allein kann man noch lange kein Café eröffnen. Das wissen auch die drei Ex-Kolleginnen. Um ein Café in bester Bonner Lage zu eröffnen, bräuchten sie zunächst einmal mindestens 70.000 € Startkapital. Doch woher nimmt man die als Gruppe idealistischer, aber »armer« Studentinnen?

An dieser Stelle setzen die drei auf die Macht der Masse, oder besser auf deren Finanzkraft. Per Crowdfunding wollen sie auf der Seite www.startnext.com mindestens 40.000 € einsammeln.

Aber 40.000 € sind ja schon eine gewaltige Summe. Ist das nicht ein bisschen naiv? Sarah findet: »Das Gute an Crowdfunding ist ja, dass, wenn viele mitmachen, jeder nicht so viel geben muss.« Die restlichen 30.000 € könnten die drei Freundinnen mit diesem Geld als Absicherung dann zur Not als Kredit bei der Bank aufnehmen. Außerdem gebe es jetzt schon Interessenten, die als stille Investoren teilhaben wollten.

»Viele denken, die spinnen da romantisch vor sich hin«
Aber was ist mit den Cafégründerinnen selbst? Wissen sie überhaupt, was sie da tun? Immerhin ist es etwas anderes, nebenher im Café zu jobben, als selbst eines zu betreiben. Bisher hatten die drei Geisteswissenschaftlerinnen mit Unternehmensgründung und Betriebswirtschaft schließlich gar nichts am Hut. Doch die drei wollen sich nicht als Naivlinge abstempeln lassen. Sie wissen, dass ihr Café rentabel sein muss, denn es soll ja keine Eintagsfliege werden. »Viele denken, die spinnen da romantisch vor sich hin, aber wir meinen das ernst«, meint Julia überzeugt. Ihnen sei bewusst, dass das ein »Vollzeitjob-Plus« sei, doch sie seien dazu bereit. Sehr motivierend sei es, wie viele Leute von der Initiative begeistert seien und ihnen ihre Hilfe angeboten hätten. So steht dem Gründerinnen-Team nun ein Unternehmenscoach beratend zur Seite und auch mit einer Arbeitsjuristin haben sie schon gesprochen. Darüber hinaus wachsen die drei mächtig an ihren Herausforderungen. Mittlerweile kennen sie sich aus mit Rechtsformen und Business-Plänen. Plötzlich müssen die jungen Frauen mit Maklern und Investoren verhandeln, professionelle Statements abgeben und dabei so auftreten, dass sie bei all dem Idealismus trotzdem ernst genommen werden. Aber: »Wenn man ’ne Idee hat, muss man auch Wege gehen, die einem nicht gefallen«, so Vesna.

»Jetzt zeigen wir es euch erst recht!«
Es hängt jetzt erst einmal alles vom Erfolg des Crowdfundings ab, das seit Ende Oktober online ist und noch bis zum 26. Januar 2016 läuft. Danach warten neue Hürden wie die Suche nach einer passenden Location und jede Menge Bürokratie. Doch Vesna, Julia und Sarah treibt ihr Idealismus, die Aussicht auf ein sinnstiftendes Lebensprojekt und auch die Liebe zu Bonn, die sie noch nicht aufgeben wollen. Sie können sich sogar vorstellen, es selbst dann zu probieren, wenn das Crowdfunding scheitert. In keinem Fall wollen sie sich vom vermeintlichen Realismus der Zweifler abschrecken lassen, erklärt Julia: »Jedes Mal, wenn wir hören, dass das Ganze nicht klappen wird, denken wir uns: Jetzt zeigen wir es euch erst recht!«

 

MEHR INFOS

Weitere Informationen zur Bürgerinitiative gibt’s im Internet unter
 freiekaffeekultur.de
 facebook.com/fkkbonn
 startnext.com/cafesinnflut

 

Länger als gedacht

Café Kurzlebig – Eigentlich sollte es nur drei Monate existieren, nun sind es schon drei Jahre. Das Café »Kurzlebig« trägt seinen Namen mittlerweile zu Unrecht – den Kunden ist das egal. Sie haben im »Kurzlebig« eine große Auswahl – zum Essen und Erleben.

von Alina Sabransky

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Was macht man mit einem leerstehenden, großflächigen Raum in einer Häuserreihe in der Rathausgasse, die in nicht allzu ferner Zukunft einem seit Ewigkeit geplanten Kaufhauskomplex weichen soll?

Genau: Man eröffnet ein Café! Das jedenfalls dachten sich Sandra Hinze und ein guter Freund im September 2012. Der Bau des neuen Kaufhauses sollte Anfang 2013 beginnen und die Miete musste noch bis Ende des Jahres gezahlt werden. So der Beginn des Bonner Cafés »Kurzlebig«. Ein Low-Budget Projekt mit dreimonatiger Lebensdauer. Ein Café mit Existenz auf Zeit. Daher auch der Name, der, obwohl mittlerweile schon Oktober 2015 ist, immer noch besteht.

Denn das Projekt läuft gut. Sogar richtig gut! Angefangen hat alles mit der Frühstückerei. Hinze, die Chefin, setzte auf Bio und Fair Trade, kaufte hauptsächlich regionale und saisonale Produkte und bietet bis heute ein Angebot, bei welchem für jeden Geschmack und jede Ernährungsweise etwas dabei ist. Vom einfachen Pott-Kaffee bis zum koffeinfreien Soja-Latte, herzhaft, süß, leicht, mediterran, nordisch oder Englisch… Über fast 40 Gerichte erstreckt sich über die Speisekarte.

Doch so spektakulär die Auswahl, so unspektakulär die Wahl der Kunden: »0815« ist die mit Abstand beliebteste Frühstückerei. Weil das Frühstück so großen Andrang fand, gesellte sich 2013 das Abendbrot dazu, welches seit kurzem durch das Schnitzelgeschäft ersetzt wird. Passend zur Oktoberfestsaison und auch in veganer Variante erhältlich. Außerdem verwandelt sich das »Kurzlebig« seit dem Sommer jedes Wochenende ab 20 Uhr in das »Cotton Café«, eine Jazz und Swing Session mit Musik der 20iger und 50iger Jahre. Ab und zu gibt es auch kleine Live-Auftritte von Independent Künstlern und sogar ein Poetry-Slam wurde erst kürzlich veranstaltet. Newcomer sind dort immer herzlich Willkommen und gerne gesehen, denn auch sie sind Teil des besonderen Charmes, den man dort, egal ob zum Frühstück oder abends, immer spürt. Dieser spiegelt sich auch in der Einrichtung wieder, die, zwar nicht top-modern sondern eher improvisatorisch angehaucht ist, vor Liebe zum Detail nur so strotzt. Der SecondHand Lampenschirm im Schaufenster oder das kleine Bücherregal ganz hinten in der Ecke mit den Kniffelbechern auf der Ablage – alles fügt sich irgendwie zusammen. Unterstützt wird das »Kurzlebig« dabei von zwei Künstlern: »Retrolust« und »Elizas kleine Engelsstube«. Beide stellen handgefertigte Wohnaccessoires her – aus Materialien vom Trödelmarkt. Alles Unikate und im Schaufenster zu bewundern, vom stylischen Kuchenständer aus alten Vinylplatten bis hin zum selbstgestrickten Topfuntersetzer. Genauso vielfältig wie das Essen, die Einrichtung und die Musik, ist auch das Publikum. Jede Generation, jedes Geschlecht und jeder Gaumen ist dort vertreten! Doch im März 2016 soll nun Schluss sein. Ausschlaggebend dafür sind allerdings nicht das geplante Kaufhaus und der daraus resultierende Abriss des Bonner Viktoriaviertels, in dem sich auch das »Kurzlebig« befindet. Durch die Entscheidung, von vorneherein nur kurzlebig zu sein, würde der Abriss das Café nicht so gewaltig treffen wie das Café Blau oder das koreanische Restaurant mandu, welche ihre gesamte Existenz in ihr Geschäft gesetzt haben.

Nein, die Zukunft des Café »Kurzlebig« steht und fällt mit dem Abendgeschäft, das zwar gut, aber eben nicht so gut läuft wie die Frühstückerei. Das muss sich ändern! Nachdem nun nacheinander immer mehr Cafés in der Bonner Innenstadt schließen, wäre der Verlust des »Kurzlebigs« nur eine traurige Anreihung an die jüngsten Ereignisse. Man bedenke das Ende vom Café Göttlich und Café Goldbraun. Aber diesmal können wir etwas gegen den drohenden Kaffeekulturverlust tun! Wir können helfen, dem »Kurzlebig« eine langlebige Bleibe zu finden. Denn weitermachen will Sandra Hinze. Wer also eine passende Location kennt, sollte sich bei ihr melden. Bei Erfolg erwartet den Retter ein Jahr lang kostenloses Frühstück. Hört euch um! Und: Neben dem Frühstück empfiehlt sich auch das Abendessen im »Kurzlebig«.

Es war einmal ein Festspielhaus

Beethoven! – Dies war die Geschichte eines Festspielhauses. Ursprünglich. Jetzt ist es die Geschichte keines Festspielhauses. Sie ist Märchen, Krimi, Theaterstück, Posse und Trauerspiel in einem. Vielleicht auch eine kleine Abhandlung über Geld. Und Kultur. Und Beethoven.

von Laura Breitkopf

(Foto: 1ZWO3 / http://1zwo3.tumblr.com/)

(Foto: 1ZWO3 / http://1zwo3.tumblr.com/)

Sommer 2007. Es ist schwülwarm in Bonn, die Luft steht. Später wird man feststellen, dass 2007 das zweitwärmste und feuchteste Jahr der Region seit Beginn der Wetteraufzeichnung ist. Kein guter Zeitpunkt, um gewichtige Entscheidungen zu treffen. Gedanken plätschern träge dahin, sind nur schwer in der Lage, die eh schon behäbigen bürokratischen Mühlen anzutreiben. Am 13. Juli gelingt es der Stadt Bonn dennoch, ein Millionenprojekt anzuschieben. Ihrem Kulturrat sitzt die Zeit im Nacken, ein Geburtstag, jedem Bonner wichtiger als Mutters Goldhochzeit, rückt bedrohlich nahe. Im Dezember 2020 wird Beethoven, bekannteste Sohn der Stadt, 250 Jahre alt. Grund genug, ihm das gesamte Jahr zu widmen. Und ein neues Haus zu bauen, genauer, ein Festspielhaus, welch prachtvolle Idee. Finden anscheinend nicht nur die Bonner Ratsleute – Deutsche Post DHL, Deutsche Telekom und Postbank möchten die Baukosten übernehmen, zu Beginn ist die Rede von rund 100 Millionen Euro. Eine Betreiberstiftung soll Geld von Bund, Sparkasse und Rhein-Sieg-Kreis erhalten, der Bundestag sagt gar 39 Millionen Euro zu. Jubel, Trubel, Heiterkeit im Stadthaus.

Aber wohin mit dem neuen Ding? Diskussion. Man wählt das Areal der alten Beethovenhalle. Schön mit Blick aufs Siebengebirge, das hätte Herrn Beethoven sicher gefallen. So weit, so gut. Und wohin mit der Beethovenhalle, dem alten Ding? Wieder Diskussion. Es ist inzwischen Sommer 2009, auch dieser Sommer ist wärmer als normal. Zwei prämierte Architekturentwürfe beinhalten den Abriss der Beethovenhalle – die seit 1990 unter Denkmalschutz steht. Sie »verkörpert baugeschichtlich die Richtung des ›organischen Bauens‹, die sich vom ›funktionalen Bauen‹ abhebt. Auch hat sie schützenswerte Inneneinrichtung. Na gut. Aber was nun? Laut Denkmalschutzgesetz dürfte bei einem »überwiegende[n] öffentliche[n] Interesse« trotzdem umgebaut oder abgerissen werden. Kann der Rat hier entscheiden? Müssen die Bürger befragt werden? Oder setzen wir das Festspielhaus einfach neben die Telekom?

Wieder Diskussion. Bis Mitte 2010 wird überlegt, vorgeschlagen, verworfen, gezankt. Der zunächst geneigte Leser ist ermüdet? Die beteiligten Parteien ebenso, Oberbürgermeister Nimptsch und die Sponsoren beschließen, dass das »Projekt vorerst nicht weiterverfolgt werden« soll. Beethoven stöhnt entnervt in die Dunkelheit seiner Wiener Grabstätte: »Freunde, ich werde auch nicht jünger!« Woher diese Zurückhaltung? Politische Grabenkämpfe? Ist der SPD-Bürgermeister es leid, gegen die schwarz-grüne Ratskoalition anzulaufen? Oder packt Nimptsch immer noch das nackte Grauen, wenn er das Wort »Großprojekt« hört?

WCCB, geistert es durch den Raum, World Conference Center Bonn – der größte Bauskandal der Stadtgeschichte und zugleich ein packender Wirtschaftskrimi. Der General-Anzeiger veröffentlicht in regelmäßigen Abständen Berichte und Folgen seiner inzwischen preisgekrönten Serie »Die Millionenfalle«. Auch hier beginnt alles mit dem frommen Wunsch, nach Abzug des Regierungssitzes nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Um weltweit geachtete UN-Stadt zu werden, benötigt Bonn jedoch noch ein Konferenzzentrum, groß genug, um darin UNO-Konferenzen ausrichten zu können. Ein teurer Traum. Bevor er verworfen wird, erscheint engelsgleich der koreanische Investor Man-Ki Kim auf der Bühne, Begründer der Firma SMI Hyundai. Ohne weitere Kontrolle darf losgebaut werden, voller Sehnsucht nach dem neuen Tagungszentrum. Liebe macht bekanntlich blind. Es folgt eine Verkettung unglücklichster Umstände. Die Baukosten explodieren; um zu sparen, hatte man auf Fachleute verzichtet. Und SMI Hyundai ist leider kein Teil eines großen koreanischen Autokonzerns und besitzt kein Eigenkapital im Millionenbereich. Der Krimi nimmt Fahrt auf und die Staatsanwaltschaft Ermittlungen, 2013 geht das Projekt mit all seinen Kosten auf die Stadt über. Es steht heute immer noch aus, wer den Kredit der Sparkasse Köln-Bonn an den betrügerischen Investor über 100 Millionen Euro zurückzahlen muss – die Stadt hatte mehrere Bürgschaften übernommen. Es ist daher nur allzu verständlich, dass man nur zögerlich ein neues Großprojekt unterstützen möchte und sich ungern einen weiteren weißen Elefanten in den Garten stellt.

Monate vergehen und den Lichtern des Leuchtturmprojekts wird langsam der Sauerstoff abgedreht. Telekom und Post springen ab. Das ist 2011. Muss Beethoven in einer maroden Mehrzweckhalle geehrt werden? Organisch gebaut, aber mit dem Charme einer Provinzmusikschule? Auftritt Wolfgang Grießl, Unternehmer und Präsident der IHK Bonn/Rhein-Sieg. Grießl&Friends krempeln die Ärmel hoch und gründen einen Förderverein mit dem Ziel, 5000×5000 Euro für das Festspielhaus einzuwerben. Es ist bereits die vierte Initiative pro Festspielhaus. Man mag von dem Projekt halten was man will, der Einsatz ist bewundernswert. Der Deutschlandfunk beschreibt Grießl als bald »missionarisch«, vielleicht ein wenig »verrückt«, auf jeden Fall »beeindruckend«. An seiner Seite engagierte Freunde und Partner – Anhänger Beethovens, versammelt euch! Unter anderem Wolfgang Clement, Wolfgang Schäuble, die berühmten Dirigenten Paavo Järvi und Kurt Masur, Hoteliers und Gastronomen sprechen sich für das Festspielhaus aus. Und auch Leon, 12, scheint verzweifelt: »Von meinen Mitschülern kennt fast keiner Musik von Beethoven. Das muss sich doch ändern!« Potz Blitz, hier packen uns die Fest.Spiel.Haus.Freunde in unserem bildungsbürgerlichen Ehrgeiz! Traurig fügt die 11-jährige Konstanze hinzu: »Menschen sind so: Das Neue lehnen sie immer erst mal ab. Auch Beethoven haben sie ja zuerst abgelehnt.« Nein, wollen wir rufen, neeein, wir verschließen uns doch nicht dem Fortschritt. Nein nein. Lasst uns schnell einem bald 250-jährigen toten Komponisten ein millionenteures Haus bauen! Warum möchten Leon und Konstanze eigentlich keinen Skatepark?

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Anfang 2015 wird immer noch diskutiert. Die Stadt ist wieder an Bord, frischer Mut wurde geschöpft, Brust raus, Schultern nach hinten. Die Post hat schon einen zweiten Architekturwettbewerb veranstaltet, es liegen drei Entwürfe auf dem Tisch. Am 25. März 2015 lädt der General-Anzeiger zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion. Das Festspielhaus wird laut Businessplan im Bau 70 Millionen Euro kosten. Grießl betont, dass dieses Geld von privaten Sponsoren stammen wird, die Stadt stellt lediglich das baufertige Grundstück. Klingt zunächst gut. Aber kann das funktionieren? Hat so etwas je funktioniert?

Was passiert, wenn die Rechnung nicht aufgeht? Wenn die Kosten unerwartet steigen? Wenn der Bauherr insolvent wird? Würde die Stadt ein Festspielhaus in bester Lage einfach halbfertig stehenlassen? Ein Betongerippe, von Vertretern der Bonner Subkultur schnell liebevoll mit Graffiti verziert, als Mahnmal kleinstädtischer Höhenflüge? Oder würde der Hauptsponsor, die Post, sich der Kosten annehmen? Offiziell ist alles abgesichert, die privaten Träger haften. Aber Unbehagen bleibt. Louwrenz Langevoort, Intendant der benachbarten Kölner Philharmonie, kann sich nicht vorstellen, dass mit 70 Millionen Euro ein Weltklassesaal gebaut werden kann. Damit spricht er aus, was viele Kritiker denken – auch der vorgelegte Businessplan wird als überoptimistisch angesehen, er umfasse unter anderem unrealistische oder wenig wünschenswerte Kannibalisierungseffekte mit anderen Kulturangeboten und -institutionen. Hat man sich hier klassisch verschätzt? Verträumt? Oder wird einfach Zwietracht gesät? Auf dem Podium wird die Stimmung hitzig. Direkt auf die nachbarliche Konkurrenz und die Dominanz des »Kölner Platzhirsches« angesprochen verbittet Grießl sich den »süffisanten Unterton« gegenüber seinem »kleinen aber feinen Festspielhaus« und gibt sich überzeugt, es sei »Platz genug für beide Häuser«.

Der Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Daniel Kahneman würde bei der ganzen Debatte wohl vom klassischen Fall eines »Planungsfehlschlusses« sprechen. Die Innensicht eines (emotional) involvierten Planers auf ein Projekt würde oftmals relevante Informationen von eigentlich bekannten Referenzpunkten – wie etwa Erfahrungen vergleichbarer Projekte – vernachlässigen. Die objektive Außensicht gäbe zumeist eine weitaus verlässlichere Basisprognose als die verständlicherweise »überoptimistische Vorhersage« des Befürworters. Diese Basisprognose bezüglich Kosten und Erfolgschancen könne dann durch das Einbeziehen individueller Besonderheiten des aktuellen Projektes erweitert und korrigiert werden.

Beethovenhalle – Bonns Tempel am Rhein: organisch, praktisch, gut? (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Beethovenhalle – Bonns Tempel am Rhein: organisch, praktisch, gut? (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Klingt logisch, ist intuitiv sofort nachvollziehbar, ja geradezu absurd klar. Wer würde bestreiten wollen, dass in vielen Situationen der Wunsch Vater eines Gedankens ist, und dass Fürsprecher einer Idee dazu neigen, sich ein optimales Szenario vorzustellen, während vor kritischem Auge ein Horrorstreifen abgespult wird? Ursache vieler unplanmäßiger Kostenexplosionen ist also ein irrationaler Ausgangsplan, gerne gepaart mit im Verlauf der Projektrealisation neu aufkommenden Wünschen. Und mit Pech. Ganz ohne tektonische Plattenverschiebung entsteht so ein Schuldenberg.

Am 15. Juni 2015 steigt die Post als Sponsor aus. Gefehlt habe seit Beginn der »Schulterschluss innerhalb der Stadt«, das zermürbt den willigsten Geldgeber. Mit dem Ausstieg ist das Projekt Festspielhaus gescheitert. Fassungslosigkeit und Bestürzung herrscht in den Reihen der Freunde und Förderer, Oberbürgermeister Nimptsch bedauert den Schritt gar »außerordentlich«. Vorhang zu.

Was sich liest wie ein spannendes Politstück, ist nur für den schadenfrohen Zuschauer wirklich erheiternd. Schon in der Phase vor der konkreten Planung wurden hier Zeit verschenkt und Gelder versenkt.

Reißerisch gefragt: Was hätten wir allein damit nicht schon alles Schönes anstellen können? Etwa die ZFS, Zentrale für Freiraum und Subkultur. 4,4 Millionen Euro hätte die Bereitstellung des baufertigen Grundstücks die Stadt zudem gekostet. 20 Jahre lang sollten jährlich 500.000 Euro ins Kapital der Betriebsstiftung fließen. Dieses Stiftungskapital hätte zwar nicht angetastet werden dürfen, 10 Millionen Euro wären jedoch auf Jahre gebunden gewesen. Und wenn finanzielle Schwierigkeiten aufgekommen wären, hätte die Stiftung gehaftet. Mäxchen Müller reibt sich an dieser Stelle perplex die Augen, das sind zusammen schon bald 15 Millionen Euro. Im Lichte des Leuchtturmprojektes stellt sich eine beliebte Grundsatzfrage des Feuilletons: Was ist fördernswerte Kunst?

Beethoven und die klassische Musik zu bewahren ist aller Ehren wert, ein wichtiger und schöner Bestandteil der Kulturlandschaft. Dass von einem solch teuren Projekt der Hochkultur allerdings vor allem ein kleiner, elitärer Kreis von Anhängern der ohnehin schon subventionierten ernsten Musik und Oper profitieren würde, liegt auf der Hand. Bonn würde für (betuchte) Touristen attraktiver, sicher. Aber was ist mit den Einwohnern? Welche Angebote machen eine Stadt besonders lebenswert – die mit der besten Lobbyarbeit, den verwurzeltsten Liebhabern, dem schrillsten Publikum, den lautesten Fürsprechern, der homogensten Anhängerschaft? Leon und Konstanze hätten wir mit dem Festspielhaus gewonnen. Was ist mit denjenigen, die sich einen Skatepark wünschen?

Ach ja, es steht im Raum, die 39 Millionen Euro vom Bund in die Sanierung der Beethovenhalle fließen zu lassen, sollte dieser zustimmen. Das würde der ganzen Debatte nachträglich – quasi posthum – noch einen Sinn bescheren.

Hinweis: In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, dass Beethoven 2019 250 Jahre alt würde. Dies haben wir korrigiert.

Bonn muss keine Weltstadt sein

LEITARTIKEL  Die in Bonn verbliebenen Bundesministerien stehen erneut zur Debatte. In der Bundesstadt ist man darüber empört und pocht auf die Einhaltung des Berlin/Bonn-Gesetzes. Eine Reise nach Berlin zeigt aber: Das Problem ist Bonn selbst.

von Philipp Blanke

Immerhin zwei Türmchen: Bonn (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Immerhin zwei Türmchen: Bonn (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Für den gebürtigen Bonner Ludwig van Beethoven war es kein schöner Sommer. Sein Geburtsort verweigerte ihm nach langem politischem und gesellschaftlichem Streit ein eigenes Festspielhaus (Bericht auf Seite 22). Im September bot das Beethovenfest dann die Möglichkeit ein paar Götterfunken über den Streit regnen zu lassen, doch Bonns designierter Oberbürgermeister Ashok-Alexander Sridharan brachte im Interview seine Bedenken über die vom Stadtrat beschlossene »teure« Sanierung der Beethovenhalle zum Ausdruck. Damit war es um die Seelenruhe wieder geschehen.

In so einem Fall fährt man erstmal nach Berlin. Das mag jetzt zynisch klingen, aber in der Hauptstadt widmet man sich in Gestalt der Berliner Philharmoniker dem sinfonischen Gesamtwerk Beethovens. Das ist Balsam für die geschundene Seele.

Es ist ein bemerkenswert erheiterndes Erlebnis, die Philharmoniker in Berlin zu erleben. Der überaus sympathische Brite Sir Simon Rattle dirigiert Beethoven ohne viel Aufhebens zu machen. Wie dieser Beethoven voller Spannung und Klarheit in die Welt getragen wird, ist eindrucksvoll.

Generell erscheint Berlin als Bühne alles Möglichen. Friedrichshain und Kreuzberg zu besuchen ist ein Muss, um schnell noch die letzten Reste einer nun dahinsiechenden alternativ-anarchischen Lebenskultur sehen zu können. Doch trotz allem ist Berlin weltgewandt; es strotzt vor Erasmus-Studenten und jungen Start-up-Performern.

Inmitten dieser Bonnflucht platzen die Eilmeldungen über die Äußerungen der Bundesbauministerin Barbara Hendricks. Sie fordert eine neue Regelung für die Standortaufteilung der Bundesministerien. In Bonn befürchtet man die Schließung der verbliebenen Behörden. Fernab der Bundesstadt kommt man ins Grübeln. Liebes Bonn, und nun? Man bekommt ja fast schon Mitleid mit dir! Dich machte man erst zur Hauptstadt, dann zu einer Größe am Rhein; später, in den 90er Jahren, baute man dir sogar einen neuen Plenarsaal! Du dachtest, du wärest nun für immer Hauptstadt. Und dann war 1999 alles vorbei. Mit den Abgeordneten ging die Hauptstadt nach Berlin, der Rest ist bekannt.

Seit dem Wegzug gilt für Bonn: Der Strukturwandel ist notwendig und in vollem Gange. Doch wohin soll es denn eigentlich gehen? Die Bonner Selbstdarstellung ähnelt der eierlegenden Wollmilchsau. Bonn könne von Wissenschaftsstadt über Universitätsstadt, UN-Stadt, klar auch Beethovenstadt, alles; 2020 will sie auch noch Fahrradhauptstadt werden. Es scheint, als wolle man den verlorenen Hauptstadt-Status mit Etiketten aller Art kompensieren.

Man sollte es sich am Rhein einfacher machen. Bonn, das war im 17. und 18. Jahrhundert der beschauliche Wohnsitz der Kölner Kurfürsten, und später Ruhesitz wohlhabender Bürger. John le Carré, britischer Schriftsteller und in den 60er Jahren Diplomat in der Bundesrepublik, schrieb das Buch »Eine kleine Stadt in Deutschland«. Er meinte damit – genau: Bonn. Wenig schmeichelhaft beschrieb er die Stadt »als Wartesaal für Berlin«. Kurzum: Bonn war nie ein bedeutender Nabel der Welt, nie eine Metropole.

Es geht darum, zu erkennen, dass man zwar so arm, aber nie so sexy wie Berlin werden kann. Dass einem der Weltstadt-Glanz schlichtweg fehlt. Und es geht keineswegs darum, Bonn schlecht zu reden. Die Bonn-Debatte sollte sich nur endlich ihrer Prämisse entledigen, nach der Bonn eine Stadt von Weltrang sei, bzw. sein müsse. Befreit Bonn von dieser Bürde! Es ist keine Schande, »Bundesdorf« genannt zu werden. Der Hauptstadt-Status war ein glückliches Ereignis der Geschichte.

Liebes Bonn, stelle dich einer nüchternen Bestandsaufnahme! Du bist nicht groß und weltstädtisch. Du bist ein schmucker kleiner Ort am Rhein, der oben in der Tabelle mitspielt – aber das eher in der zweiten Liga. Wage dich nicht allzu hoch hinauf, sondern sei auch mit weniger zufrieden. Du kannst nicht international und weltoffen sein, wenn du vom Münsterplatz die Klangwelle verbannst! Sei ehrlich zu dir selbst, auch wenn es manchmal schmerzt. Und wenn du dir mal nicht gefallen solltest, dann ändere dich. Doch bedenke, dass dann jeder seinen Teil dazu beitragen muss – auch auf Kosten der eigenen Komfortzone.

In einem Beitrag für das NDR-Satiremagazin »extra3« beklebte Reporter Tobias Schlegl 2011 ein Bonner Stadtschild mit den Worten »Vorort von Köln«. Nun, das wird Bonn nun wirklich nicht gerecht. Aber erst in der Übertreibung erkennt man ja meist den wahren Kern.

Fragen kostet nichts

Beratungsangebot – Ärger mit dem Chef? Oder dem Vermieter? Der ebay-Kauf entspricht nicht den Erwartungen? Bei rechtlichen Fragen sollte man einen Anwalt aufsuchen – nur: Der kostet Geld. Bonner Jurastudierende bieten seit kurzem eine kostenlose Alternative.

von Johanna Dall’Omo

(Illustration: Alexander Grantl / AKUT)

(Illustration: Alexander Grantl / AKUT)

Während ihres Jurastudiums lernen Jurastudierende oft nur Definitionen auswendig und kauen Gerichtsurteile durch. Den ersten praktischen Einblick in den juristischen Alltag bekommen sie jedoch oft erst im Referendariat. Die Idee der Lawclinic bietet Studenten der Rechtswissenschaften direkt ab dem ersten Semester die Möglichkeit, echte Fälle zu bearbeiten. So bekommen sie Übung und sind besser auf das spätere Berufsleben vorbereitet. Auf der anderen Seite wird Mandanten mit einem Rechtsproblem die Möglichkeit gegeben, ihren Fall kostenlos bearbeiten zu lassen. Die Idee ist grundsätzlich nicht neu. Man kann sich von Medizinstudierenden behandeln lassen, von Frisör-Azubis die Haare schneiden lassen und diese profitieren davon immer auch selbst. Die Lawclinic hat dieses Konzept auf juristische Fälle übertragen.

In Bonn existiert die Lawclinic seit Mai diesen Jahres. Aktuell sind bereits mehr als 100 Bonner Studenten und Studentinnen der Rechtswissenschaften bei dem Programm angemeldet. Etwa 30 von ihnen bringen sich aktiv in die Beratungen ein. Von den Fällen, zwischen 10 und 20 neue pro Woche, können momentan, aufgrund der Kapazitätsgrenze, noch nicht alle angenommen werden.

Bei der Umsetzung der Idee in Bonn half Professor Dr. Michael Beurskens den Studierenden. Er ist der Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht der Uni Bonn und hatte zuvor schon beim Aufbau der Lawclinic in Düsseldorf geholfen. Zusammen mit anderen Betreuern unterstützt er die angehenden Juristinnen und Juristen und stellt eine korrekte Beratung sicher.

Um das Risiko gering zu halten, gibt es eine Grenze des Streitwerts bei 800 €. Das heißt, dass der Wert des Gegenstandes, um den es geht, diese Grenze nicht überschreiten darf. Fertig ausgebildet sind die Studierenden schließlich noch nicht. Damit solche »fertigen« Anwälte das Angebot nicht als kostenlose Konkurrenz ansehen, bemüht sich die Lawclinic aktuell um eine Zusammenarbeit mit einigen von ihnen. Zusätzlich sind die Teilnehmer abgesichert, da sie nicht für Berufsfehler haftbar sind, sondern nur für grobe Fahrlässigkeit. Das heißt, es wird nur das von ihnen erwartet, was ein Studierender im jeweiligen Semester auch schon wissen kann. Die Teilnehmer der Lawclinic haben, gegenüber den »echten« Anwälten, aber auch einen Vorteil. Sie sind engagiert, motiviert und bereit, Zeit zu investieren. So suchen sie auch mal juristische Fundstellen raus, für die sich ein Anwalt bei einem Streitwert von 100 € vielleicht nicht die Mühe machen würde.

Wer selbst eine Rechtsberatung braucht, findet auf www.lawclinic.de ein Formular, über das der Fall geschildert werden kann. Professor Beurskens überprüft dann, ob der Fall für die Lawclinic geeignet ist, versieht die Unterlagen mit Hinweisen und stellt sie den teilnehmenden Studierenden in einem eigenen Intranet zur Verfügung. Diese können dann selbstständig entscheiden, welchen Fall sie bearbeiten möchten. Daraufhin nehmen sie Kontakt mit dem Mandanten auf und erarbeiten zusammen eine Lösung für das Problem.

Wer das Glück hat, keinen juristischen Rat zu brauchen, für den lohnt sich trotzdem ein Klick auf die Internetseite. In der neuen Rubrik »Berater des Monats« werden die Teilnehmer der Lawclinic und ihre Fälle vorgestellt.

Freihandel und dunkle Flecken

RUBRIK: Bonn, deine Lehrenden – Karsten Jung ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie. Im AKUT-Gespräch erklärt er, warum TTIP eine gute Sache, Nordkorea so dunkel und das Auto des US-Präsidenten gar nicht so spannend ist.

Interview Alexander Grantl

Karsten Jung (34) »So wenig, wie die Nordkoreaner über den Rest der Welt wissen, weiß der Rest der Welt über sie« (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Karsten Jung (34): »So wenig, wie die Nordkoreaner über den Rest der Welt wissen, weiß der Rest der Welt über sie« (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

AKUT   Kannst du nachts gut schlafen? Oder hast du Angst vor TTIP?
JUNG   Ich schlafe prächtig – TTIP macht mir wirklich keine Sorgen.

AKUT   Warum nicht?
JUNG   Nun, grundsätzlich ist TTIP eine gute und richtige Sache. Dabei geht es mir weniger um die konkreten wirtschaftlichen Vorteile als um geopolitisch-strategische Gesichtspunkte: So betrachtet ist es durchaus sinnvoll, dass wir als »westliche Wertegemeinschaft« gewisse Normen und Standards gemeinsam verhandeln. Man darf auch die Alternative nicht aus dem Blick verlieren: Parallel zu TTIP verhandeln die Amerikaner mit den Asiaten – über eine Trans-Pazifische-Partnerschaft. Ob die Standards, die dabei herauskommen, wirklich höher sind als jene, die die EU mit den USA verhandelt, ist sehr fraglich. Und was würde das für den Wirtschaftsstandort Europa bedeuten, wenn ein solches Abkommen die globalen Standards bestimmte? Das halte ich für potenziell problematischer! Klar, in einer idealen Welt würde man bei TTIP natürlich einiges anders machen – aber die Welt ist nunmal nicht ideal – und wie alle Verhandlungen erfordern auch diese Kompromisse.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass man die eigenen Werte, Normen und Prinzipien aufgibt. Natürlich: Man muss auch in dieser Situation auf Verbesserungen hinarbeiten! Etwa Druck auf die entsprechenden politischen Verantwortlichen ausüben – denn, dass Schiedsgerichtsverfahren außerhalb des regulären Rechtssystems und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, halte ich für falsch. Aber, dass ich diese Kritik teile, heißt nicht, dass ich per se gegen TTIP bin. Wichtig ist, seiner Stimme Gehör zu verschaffen, wie es im Oktober ja auch 150.000 Menschen in Berlin getan haben.

Übrigens: Der VW-Abgas-Skandal zeigt uns ja, dass die europäischen Standards nicht in allen Bereichen die höheren sind. Oftmals haben die USA deutlich höhere Standards, die der Bevölkerung dort auch sehr wichtig sind – die Abgasnorm in Kalifornien, zum Beispiel. Und noch viel wichtiger: Standards im Finanzmarktbereich! Da haben die Amerikaner nach der Finanzkrise viel entschiedener und stärker reguliert als wir in Europa.

Und ob man am Ende des Tages lieber ein amerikanisches Chlor-Hühnchen oder ein europäisches Antibiotika-Hühnchen isst, kann ja jeder für sich selbst entscheiden.

AKUT   Schön, dass du das Chlor-Hühnchen selbst nennst. Ärgert es dich, dass in der Diskussion so viel darüber – und über Gen-Mais – gesprochen wird?
JUNG   Ja, eindeutig. Wenn sich eine Debatte auf dieser Grundlage abspielt, dann hat jemand das Thema einfach nicht kapiert. Dann versteht man die Tragweite des Ganzen nicht.

Schon klar, solche plakativen Begriffe lassen sich für Demos schön aufs Transparent schreiben. Aber wenn wir auch auf dem Niveau diskutieren, wird das nicht zum Ziel führen. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen: Ja, in bestimmten Feldern sind die europäischen Regularien besser und müssen bewahrt werden. Aber: In anderen Bereichen können wir eben auch von US-Regelungen profitieren.

AKUT   Neben den Hühnchen stehen derzeit aber auch demokratiegefährdende Inhalte zur Debatte. Was muss passieren, damit die verschwinden?
JUNG   Man kann ganz klar erkennen, dass die berechtigte Kritik in der EU mittlerweile angekommen ist. Die EU-Kommission setzt sich inzwischen dafür ein, dass die Schiedsgerichtsverfahren anders gestaltet werden. So entfaltet der öffentliche Druck einen sinnvollen Effekt: Er wird zwar nicht dafür sorgen, dass das Abkommen gar nicht zustande kommt, aber, dass es ein besseres Abkommen wird.

Am Ende muss das Abkommen greifbare wirtschaftliche Vorteile für alle Beteiligten bieten und gleichzeitig demokratischen Standards genügen. Das kann auch so verhandelt werden. Da sind wir jetzt noch nicht, aber wir sind auch noch nicht am Ende der Verhandlungen.

AKUT   Vom Freihandel zur Planwirtschaft – 2014 hast du für zwei Wochen eine Reise durch Nordkorea gemacht. Das ist ja eher ein ungewöhnlicher Urlaubsort…
JUNG   Tja, ich saß oft hier im Büro, las Meldungen über Nordkorea und dachte: Das kann doch echt nicht sein. Da steht dann, die Männer in Nordkorea müssten jetzt alle die gleiche Frisur wie Diktator Kim Jong-un tragen. Oder, dass das nordkoreanische Staatsfernsehen gemeldet hätte, dass sie die Fußball-WM gewonnen hätten. Oft sind das nur Falschmeldungen in den Medien hier. Aber manchmal kann man sich ja sowas echt vorstellen. Kurz: So wenig, wie die Nordkoreaner über den Rest der Welt wissen, weiß der Rest der Welt über sie. Naja, das – und ’ne Bierlaune mit einer Freundin – war der Anstoß.

AKUT   Nach der Reise hast du in Vorträgen über deine Einblicke berichtet und Nordkorea als »dunklen Fleck« bezeichnet – wie ist das gemeint?
JUNG   Es gibt diese Nachtaufnahme von Nordkorea aus dem All. Und während in China und Südkorea drumherum alles hell erleuchtet ist, ist Nordkorea ein ziemlich dunkler Fleck. Das stellte sich dann vor Ort, in Pjöngjang zumindest, gar nicht so krass dar. Auch da gibt es Neonlichter.

Dennoch: Die Bezeichnung »dunkler Fleck« trifft in anderen, wesentlicheren Bereichen als der Beleuchtung, zu. Gerade, was Menschenrechte und Grundfreiheiten betrifft. Diesbezüglich ist Nordkorea tatsächlich einer der dunkelsten Flecke der Erde. Auch wirtschaftlich geht’s dem Land natürlich nicht gut, die humanitäre Situation ist dramatisch schlecht – beides resultiert letztlich aus der Politik eines Regimes, das die Menschenwürde seiner Bürger nicht achtet und lediglich am Erhalt der Privilegien einer kleinen Elite interessiert ist.

Jung in der demilitarisierten Zone, die die Koreanische Halbinsel in Nord- und Südkorea aufteilt (Foto: Privat)

Jung in der demilitarisierten Zone, die die Koreanische Halbinsel in Nord- und Südkorea aufteilt (Foto: Privat)

AKUT   Wird der dunkle Fleck etwas heller, wenn man näher dran ist?
JUNG   Heller vielleicht nicht, aber Nordkorea stellt sich doch ein ganzes Stück anders dar, wenn man das vor Ort erleben kann. Zwar nur aus der Perspektive, die man einem Touristen aus dem Westen – natürlich auch ganz bewusst – präsentiert. Aber, dass in der Hauptstadt Handys fast allgegenwärtig und auch chinesische Prada-Kopien zu sehen sind, hätte man so vielleicht nicht unbedingt erwartet. Klar, außerhalb Pjöngjangs sieht das erheblich anders aus. Und dieser Kontrast zwischen der Hauptstadt, die sich mit etlichen Straßensperren vom Land abgrenzt, zum restlichen Nordkorea war auch unerwartet deutlich.

AKUT   Was siehst du noch anders, was du vor der Reise nicht erwartet hattest?
JUNG   Tja, das ganze bekommt eben ein Gesicht. Im wahrsten Sinne des Wortes: Da lernt man dann seine zwei Reiseleiter kennen, Mr Kim und Mrs Kim – nicht verwandt oder verschwägert. Und Mr Kim war ein spannender Typ! Ende 20, kam gerade von der Universität, wo er Deutsch studiert hatte. Und er sprach ein nahezu perfektes Deutsch, ohne das Land jemals verlassen zu haben. Ein unglaublich aufgeweckter und interessierter Kerl, der mich zum Beispiel detailliert zur Merowingischen Geschichte befragte. Er sprach auch noch fließend Koreanisch, Chinesisch und Englisch. Man hätte ihn am liebsten für ein DAAD-Stipendium vorgeschlagen, doch das geht natürlich nicht. Er konnte auch in den Gesprächen nicht ganz frei sein, hat aber einiges durchblicken lassen. Das hatte wenig mit den Klischees oder Stereotypen über Nordkoreaner zu tun, mit denen man hier immer wieder konfrontiert wird. Nichts von den gleichgeschalteten Massen, die man sonst im Fernsehen sieht. Ein ganz konkretes Individuum – das war sehr spannend.

AKUT   Du hast gesagt, man »besichtigt« nicht nur Unfreiheit, sondern man wird auch selbst unfrei. Wieso?
JUNG   Ja, das ist definitiv so. Auch, wenn das der Lage natürlich nicht wirklich gerecht wird – die Nordkoreaner haben eine unendlich viel schwerwiegendere Unfreiheit zu ertragen als Touristen, die das Land in einer Art Luxusblase bereisen – und es danach ungehindert wieder verlassen können. Trotzdem: Man bekommt ein Gespür dafür, wie es ist, ohne diese ganzen Selbstverständlichkeiten zu leben. Wir konnten uns da nicht entscheiden, ob wir noch mal eben in die Stadt wollen, ob wir jetzt gerne etwas essen möchten oder nicht. Wenn es Essen gibt, dann wird auch gegessen und alleine in die Stadt zu gehen, ist ohnehin tabu. Man begibt sich in dieses System und liefert sich ihm ein Stück weit aus.

AKUT   Von einem sehr unfreien Land zum Land der Freiheit: Du hast ein Jahr an der privaten American University in Washington, D. C. studiert. Was kann eine US-Uni besser als eine deutsche?
JUNG   Also ich kann höchstens für meine sprechen: Die war einfach extrem gut vernetzt, mit allem, was es in Washington an Think Tanks und politischen oder Nichtregierungsorganisationen gibt. Dieses Netzwerk war großartig und davon konnte man wirklich profitieren. Da konnte man auch jenseits von allem Akademischen in den Politikbetrieb eintauchen und das sehr »prozesshafte« Wesen des politischen Alltagsgeschäfts mitbekommen. Was ich zudem für eine sehr gute Lebensentscheidung halte: Die Amerikaner machen nach ihrem Bachelor oft was Praktisches. Die gehen für ein oder zwei Jahre arbeiten und kehren erst dann für den Master an die Universität zurück. Das macht die Diskussionen in den Seminaren da ganz anders: Die Leute können alle auf ihre eigenen praktischen Erfahrungen aus völlig verschiedenen Feldern und Ländern zurückgreifen. Das ist echt eine Stärke!

AKUT   Und fühlt man sich in Washington näher bei den mächtigsten Menschen der Welt?
JUNG   Puuh, klar, manchmal sieht man eine Autokolonne durch die Stadt fahren. Aber das ist dann relativ normal. Da schreit man nicht jedesmal: »Oh, da fährt der Präsident durch die Stadt!!!« Für mich war viel spannender, was so zwei Ebenen darunter, im Hintergrund abläuft: Etwa, wenn sich jeden Mittag irgendwo in ein paar Büros 20 Leute treffen, die dann aktuelle Fragen der Weltpolitik diskutieren. Und das auf einem Niveau, das immens ist. Da kann sich dann jeder dazusetzen und was sagen oder nichts sagen. Aber das zu sehen, wie so maschinenraummäßig Politik gemacht wird, hinter den Kulissen, ist viel eindrucksvoller als so’ne Autokolonne.

AKUT   Und zurück in Deutschland hast du dich dann irgendwann entschieden, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen?
JUNG   Nö. Endgültig entschieden habe ich mich da noch nicht.

AKUT   Du hast zwischendrin ein paar Jahre für die Unternehmensberatung McKinsey & Co. gearbeitet – warum jetzt nicht mehr?
JUNG   Für mich gibt’s drei Dimensionen, die so einen Job ausmachen: Die Inhalte, die Prozesse und die Menschen. Letztlich war es die inhaltliche, die den Ausschlag gab: Wie man die Kundschaft für Siemens-Telefone vergrößert  ist nichts, was mich morgens wirklich aus dem Bett bringt.

Aber die Prozesse waren spannend. Eine sehr intensive Teamarbeit. Zusammen an Fragestellungen arbeiten, sich sehr konzeptionell Lösungen überlegen, lösungsorientiert arbeiten. Das hat mir gut gefallen. Und die Leute waren auch sehr cool. Man kommt da zu so einer Einführungsveranstaltung – für alle, die nicht BWL studiert haben – irgendwo in Boston. Und dann sitzt man da in einem Firmengebäude – rechts ein Kerl, der gerade seinen Abschluss in Atomphysik gemacht hat, links jemand, der zwei Jahre als Missionar in Haiti gelebt hat. Absolut bemerkenswert. Und jeder hat eine geile Geschichte zu erzählen. Ich finde, was immer man tut, das sollte man mit Leidenschaft und Begeisterung tun. Am besten: Man sollte sich leidenschaftlich für was begeistern.

AKUT   Noch ein Wort zum Abschluss, bitte.
JUNG   Europa ist eine wichtige Sache. In letzter Zeit ist es an vielen Fronten – Eurokrise, Flüchtlingskrise, und so weiter – vor allem mit Kritik konfrontiert. Wenn wir ein besseres Europa wollen, dann müssen wir auch selbst etwas dafür tun. Deshalb würde ich sagen, auch auf die Gefahr hin, Baumarktwerbung zu zitieren: Mach’ es zu deinem Projekt! 

Weder stark noch schwach

Genderpolitik – Das Studentenwerk ist jetzt auch geschlechtsneutral und heißt Studierendenwerk. Neuer Name – Thema vom Tisch? Interessiert es wirklich jemanden, ob es Studentenwerk, Studierendenwerk oder Studenten-und-Studentinnenwerk heißt?

von Hannah Rapp

(Illustration: Florian Eßer / AKUT)

(Illustration: Florian Eßer / AKUT)

Wenn frau oder man oder alle, die sich irgendwo dazwischen einordnen würden, mal »Gender-Diskussion« oder »Gender-Witze« googeln, wird einem nur allzu deutlich, dass dieses Thema in den letzten Jahren wohl in jedem deutschen Medium behandelt wurde. Nicht mehr wirklich motiviert, da es wohl kaum etwas Neues zu schreiben gibt, sitze ich also nun vor meinem Laptop.

Etwas missmutig denke ich kurz darüber nach, mich selbst umzubenennen, um der Aufgabe zu entfliehen, einen Text zu diesem Thema abzuliefern.

In meiner trüben Stimmung frage ich mich: Was qualifiziert mich denn nun eigentlich dazu, über dieses Thema zu schreiben? Und wie will ich mich in dieser Sache positionieren? Gut, ich gehöre dem Geschlecht an, dem diese Umbenennung irgendwie zu Gute kommen soll. Und die nächste Frage schließt sich gleich an: Emotionalisiert mich diese Umbenennung in irgendeiner Art und Weise? Lachen, Weinen, Staunen, Wut oder Wow? Und die nächste Frage führt noch weiter in eine vermeintliche Sackgasse: Ich persönlich finde das Thema interessant genug, um darüber zu schreiben. Auch einige Hochschulgruppen kommentierten die Umbenennung nahezu euphorisch, aber: Interessiert es den Ottonormal-Studierenden oder schreibe ich gerade einen Artikel, der nie gelesen wird, weil er so oder so ähnlich schon hundertmal gelesen wurde?

Nicht mehr ganz so motiviert und etwas zweifelnd an meinen Fähigkeiten, diesen Artikel dramaturgisch aufregend zu gestalten, muss ich feststellen, dass die besagte Umbenennung in mir weder positive, noch negative Emotionen hervorruft. Ich finde es weder besonders aufregend, noch finde ich es falsch, dass dafür Geld ausgegeben wird (wie manche andere Studierende bereits äußerten).

Heißt das, dass mich die Gleichstellung der Geschlechter nicht genug interessiert und ich mich nicht feministisch genug verhalte? Sollte ich mich nicht darüber freuen, dass Frauen nun endlich an offizieller Stelle sprachlich berücksichtigt werden? Oder kommt diese Umbenennung einfach 40 Jahre zu spät? Hätte das »Studierendenwerk« die Menschen in den wilden Siebzigern emotionalisiert und auf die Straße gebracht?

Es ist ja nicht so, als würde das Thema »Gender« nicht auch heute noch eine halbwegs wilde Diskussion am WG-Küchentisch auslösen. Nur flacht diese auch schnell wieder ab, da alle ja eh total sprach- und genderbewusst sind und schon vor fünf Jahren für die Einführung des genderneutralen Profx plädiert haben. In einem studentisch-geprägten Umfeld scheint diese Diskussion tatsächlich schon fast zu oft geführt. Und so kann ich mir auch nur schwer vorstellen, dass die Erstis von 2017 (da soll die Neubeschilderung fertig sein), wenn sie auf die Mensa zuschlendern, mit zufrieden-erstaunter Mine denken: »Oh, ein genderneutrales Schild!« Genauso, wie wohl die wenigsten Studierenden vor dem jetzigen Schild stehen bleiben und im Kern erschüttert oder vor Wut entbrannt nach einer Spraydose schreien, um diese Schweinerei unkenntlich zu machen.

Obwohl es also mit dem Studierendenwerk hin zu einer gerechteren Sprache geht, löst es – außer bei wenigen Ausnahmen – keine überschäumenden Reaktionen aus. Die neuen Schilder werden kommen und kaum jemand wird den Wechsel wahrnehmen. Was bleibt, ist die Frage: Was zur Hölle passiert mit den ganzen alten Studentenwerks-Schildern?

Beschlossene Sache

RUBRIK: Beschlüsse des Studierendenparlaments – Das 37. Studierendenparlament hat erneut viele Dinge beschlossen. Wie immer finden wir unter den Beschlüssen alte Bekannte und einige Neuerungen – ausgewählte Beschlüsse stellen wir hier vor.

von Sven Zemanek & Alexander Grantl

sp

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

24.06.2015
Umgang mit Anträgen Externer
Das Studierendenparlament der Universität Bonn spricht sich dafür aus, bei fehlerhaften Anträgen, die von Studierenden gestellt werden, die weder Mitglied des Studierendenparlaments noch des AStA sind, Nachsicht walten zu lassen. Muss ein Antrag aus formalen Gründen abgelehnt werden, sollen die Antragsteller im Voraus benachrichtigt werden.

Wie diese »Nachsicht« mit der Geschäftsordnung vereinbar ist, erklärt der Antrag allerdings nicht. Der Antrag wurde von der Fraktion des RCDS eingereicht.

24.06.2015
Finanzantrag Kritische MedizinstudentInnen Bonn
Für eine Podiumsdiskussion zum Thema »Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in Bonn und Deutschland« erhält die Hochschulgruppe »Kritische MedizinstudentInnen Bonn« bis zu 320 €.

Die Moderation der Veranstaltung übernahm die Journalistin Dr. Ebba Hagenberg-Miliu. Daher berichtete auch der General-Anzeiger mehrmals über die Diskussion.

08.07.2015
Videoübertragung der Mitgliederversammlung des fzs
Das Studierendenparlament spricht sich dafür aus, eine Videoübertragung der Mitgliederversammlung des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften durchzuführen. Der Öffentlichkeitsausschuss des Studierendenparlaments soll prüfen, in welchem Rahmen dies möglich ist.

Als Reaktion auf diesen Antrag des RCDS und der LHG hatte die Juso-HSG auf der nächsten Sitzung beantragt, eine Videoübertragung der RCDS-Bundesdelegiertenversammlung zu organisieren.

08.07.2015
Förderung Internationale Stummfilmtage
Die Internationalen Stummfilmtage werden mit 2500 € gefördert.

Das Studierendenparlament hat die Internationalen Stummfilmtage in der Vergangenheit mehrfach finanziell unterstützt.

08.07.2015
Finanzanträge AStA-Sportreferat: Trampolinturnen, Fechten, Boxen
Das Studierendenparlament genehmigt 1254,99 € für neues Boxzubehör, 5500 € für neue Fechtausrüstung, und 5872,82 € für ein neues Wettkampftrampolin.

Die Anschaffungen wurden bereits von der Sportobleuteversammlung beschlossen und mussten nun noch vom Studierendenparlament abgesegnet werden.

15.07.2015
Unterstützung der AIDS-Hilfe Bonn bei der Durchführung des alternativen CSD
Die Studierendenschaft unterstützt die AIDS-Hilfe Bonn bei der Durchführung sowohl »ideell« als auch finanziell mit 200 €.

Wie diese »ideelle« Unterstützung aussehen soll, ist dem Antrag der Juso-HSG nicht zu entnehmen.

15.07.2015
Statut, Geschäftsordnung und Zuschussmodell der Obleuteversammlung
Das Statut des StudentInnensports, die Geschäftsordnung und das Zuschussmodell der Obleuteversammlung werden geändert.

Der StudentInnensport ist Teil der verfassten Studierendenschaft und des allgemeinen Hochschulsports der Universität Bonn.

15.07.2015
Änderung der Beitragsordnung
Ab WS 2016/17 sinkt der Beitrag für die studentische Selbstverwaltung von 10,50 € auf 10,- €; der für die studentischen Sozialeinrichtungen von 0,66 € auf 0,50 €, und der für die Rückerstattung des Mobilitätsbeitrags von 0,85 € auf 0,60 €.

Jetzt nimmt der AStA dem RCDS auch noch das letzte Wahlkampfthema!

10.09.2015
Verteilung der Unterschriftenliste »Viva Viktoria!« in den Mensen
Die Unterschriftenlisten zum Bürgerbegehren »Viva Viktoria!« wird bis zum 2. Oktober durch den AStA neben den üblichen Auslagen in den Mensen verteilt.

Über das Bürgerbegehren berichten wir auch in diesem Heft – ab Seite 28.

10.09.2015
Fachreferenten im Untersuchungsausschuss
Das Studierendenparlament stellt fest, dass Finanzreferentin und Sozialreferentin des AStA zuständige Fachreferentinnen des Untersuchungsausschusses sind und daher zu den Sitzungen einzuladen sind.

Außerdem gab es eine Auseinandersetzung des Finanzreferenten mit dem Untersuchungsausschuss um die Nichtöffenlichkeit von Sitzungsteilen.