Wir wuppen das schon

TITEL  Sie wissen nicht, was kommt, aber sie fürchten es auch nicht: Die Studierenden von heute haben keine Angst vor ihrer Zukunft – egal, wie sie aussehen wird. Drei junge Menschen erklären, was sie mit ihrem Studium, ihrer Zukunft, ihrem Leben vorhaben.

VON ALEXANDER GRANTL

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Gavin, 27: »Generation 140 Zeichen« (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Als Gavin auf die Welt kam, waren seine Eltern gerade 21. Sie steckten mitten im Studium. Gavin wuchs nicht wie ihr Kind auf, sondern wie ihr Freund. Mit zwei Jahren spielte ihm seine Mutter das »Schlaflied« der »Ärzte« vor – den gruseligen Text verstand er nicht, aber die liebliche Melodie gefiel ihm. Als er vier, fünf war, nahmen sie ihn mit auf Partys. Er mixte Cocktails, lernte, wie man Platten auflegt. »Das klingt trauriger, als es ist. Eigentlich war es fantastisch«, sagt Gavin. Er wurde 1989 in Oberhausen geboren. Als er in der vierten Klasse war, zogen seine Eltern mit ihm nach Mülheim an der Ruhr. Sein soziales Umfeld brach weg, seine Noten brachen ein. Für die fünfte und sechste Klasse ging er aufs Gymnasium, dann musste er auf eine Realschule wechseln – Mathe und Religion waren Schuld. Seine Mutter brachte ihn zu einem Lernpsychologen, »der feststellen sollte, ob ich zu doof war.« War er nicht, aber trotzdem lief es auf der Realschule nicht gut. In der achten Klasse blieb er sitzen – Französisch. Er begann, sich sozial zu entdecken: grüne Haare, Theater-AG, Schulsprecher, »das volle Programm«, wie er es nennt. In der zehnten Klasse wechselte er mit einem 2,0-Schnitt auf eine Gesamtschule. Wegen Mathe und Physik verfehlte er dort die Qualifikation fürs Abitur, musste ein Jahr wiederholen. »Da habe ich dann richtig reingehauen und das Abi endlich mit 3,1 bestanden.«

21 Jahre im Schnelldurchlauf. Heute ist Gavin 27. Er sitzt zurückgelehnt im Studio vom Campusradio bonnFM. Er ist Chefredakteur des Senders, sitzt im Vorstand und moderiert hier regelmäßig. »Ich war nie ein Vorzeigeschüler, aber immer der Klassenclown«, sagt er amüsiert und spielt mit einer Wasserflasche. Achtmal musste er in seiner Kindheit eine neue Schulklasse kennenlernen, fünfmal davon war er »der Neue«, musste sich in eine bestehende Klasse eingliedern. »Am Anfang war das schwierig, aber im Laufe der Zeit hat es immer besser funktioniert. Heute nehmen Führungskräfte Kurse, um Social Engineering zu lernen. Ich habe es mir selbst beigebracht.«

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Gavin, 27 (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Wer Gavin fragt, was er studiert, muss ein wenig Zeit mitbringen. Eingeschrieben ist er für Germanistik, vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, im Nebenfach katholische Theologie. »Zuerst dachte ich auch: Germanistik ist genau mein Ding.« Nach dem ersten Semester hat er aber keine Lehrveranstaltung mehr belegt. »Ich hatte ein Seminar, für das ich innerhalb eines Semesters zwölf Romane hätte lesen müssen. Da wusste ich schnell: Das ist nichts für mich.« Er ist nicht der Typ, der sich in die Bibliothek setzt und Hausarbeiten schreibt. Als er mit der Schule fertig war, leistete er zunächst Zivildienst bei der Aidshilfe in Köln. Das findet man bei Menschen in Gavins Alter immer seltener: Zwischen 2001 und 2013 sank die Zahl der Studierenden, die einen Zivildienst aufnahmen, von 48 Prozent auf 32 Prozent. Das steht im sogenannten Studierendensurvey, den die Universität Konstanz alle zwei, drei Jahre für das Bundesbildungsministerium durchführt. Im Anschluss an seinen Zivildienst begann Gavin eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann, auch bei der Kölner Aidshilfe. Er lernte, wie man Veranstaltungen organisiert, Charity-Events, wie die Kölner Aidsgala. »Vorbereiten, durchführen, nachbereiten – das ist der Dreiklang des Veranstaltungskaufmanns«, erklärt er. Dass Studierende an Universitäten vor ihrem Studium eine berufliche Ausbildung aufgenommen haben – wie Gavin – ist selten. Es trifft nur auf etwa 12 Prozent zu. Das ist nicht neu – immer mehr junge Menschen steigen direkt nach ihrem Abitur in das Studium ein: 1993 waren es 44 Prozent, 2003 schon 50 Prozent und 2013 bereits 60 Prozent. Berufsausbildungen, Berufstätigkeiten, Wehr- oder Zivildienst vor dem Studium werden immer seltener.

2014 schloss Gavin seine Ausbildung ab – mit Bestenehrung. »Ich war nicht schlecht in dem Beruf, aber für mich war es nicht das Richtige. Ich dachte, Excel und so – das kann nicht alles sein. Ich bin eher kreativ und möchte mich verwirklichen – das konnte ich als Veranstaltungskaufmann nicht.« Also entschied er sich für das Studium. Eine falsche Entscheidung.

Lisa war ein schüchternes Kind. Oft waren es ihre Eltern, die Freundschaften für sie knüpften. Als sie fünf war, trennten sich die Eltern. Für Lisa kein großes Thema – Mutter, Vater und eine Stiefmutter, sie fühlte sich nie allein. Sie erzogen sie fürsorglich, ohne es zu übertreiben. Ihre Mutter und ihre Stiefmutter lasen ihr vor, die »Wilden Hühner« von Cornelia Funke, die liebt Lisa immer noch. Bis heute stehen die Bücher in ihrem Regal. Oft gingen ihre Eltern mit Lisa ins Museum, Bildung war ihnen wichtig. Und, dass Lisa ein sozialer Mensch wird: »Es lag ihnen am Herzen, dass ich verstehe, dass die Menschen unterschiedlich denken. Dass ich niemanden vorschnell verurteile.« Weltoffen sollte ihre Tochter werden, selbstbewusst auch. Und an ihrer Verpeiltheit arbeiten, nicht mehr so häufig zu spät sein. Mit 13 trug sie Baggy Pants und Krawatten, schminkte sich mit Kajal – ihre Avril Lavigne-Phase. Die Mitschüler fragten, ob sie sich Edding um die Augen geschmiert habe oder Daniel Kübelböck imitiere. Irgendwann begeisterte ihr Vater sie für Phil Collins, Bruce Springsteen und U2, mittlerweile ist sie musikalisch für fast alles offen. Auch für Klassik – aber nur Tschaikowski.

Lisa wurde 1993 in Köln geboren, heute wohnt sie in Brühl, in einer Wohngemeinschaft mit ihrer Mutter. Sie nennt das »Mädels-WG« und lacht. Weil sie ihrer Mutter nicht immer auf der Tasche liegen will, zahlt sie ihr Miete. »Es ist nicht ideal, aber es funktioniert«, sagt Lisa. Bisher hat sie noch nicht alleine gelebt. Das gilt für ihre Altersgruppe als typisch: Fast 40 Prozent der 22- bis 25-Jährigen leben noch bei ihren Eltern, mehr als früher. Vor ein paar Jahren suchte Lisa nach einer Wohnung in Köln, viele ihrer Freunde zogen dorthin. »Es war aber unmöglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden.«

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Lisa, 22 (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Lisa studiert im ersten Semester das Master-Studienfach English Literatures and Cultures, vor einem Jahr schloss sie ihr Bachelorstudium ab: sieben Semester Germanistik. Das ist keine ungewöhnliche Wahl für junge Frauen wie Lisa: Anglistik, Germanistik und Romanistik sind in ganz Deutschland frauendominiert – in der Anglistik finden sich zu 88 Prozent, in der Germanistik zu 81 Prozent Frauen. Auch heute noch folgen junge Menschen traditionellen Mustern, wenn sie ihr Studienfach wählen – Frauen wie Männer: Ingenieur- und Naturwissenschaften werden an deutschen Universitäten zu 72 Prozent von Männern studiert, Physik zu 81 Prozent, Informatik zu 80 Prozent. Das zeigt der Konstanzer Studierendensurvey genauso wie die Zahlen des Statistischen Bundesamts.

Ihre Bachelorarbeit schrieb Lisa über das Nibelungenlied. Irgendwann wurde das ziemlich ermüdend, das ganze Germanistikstudium hatte sie nie so wirklich gepackt. Sie hatte ihr Studium direkt nach dem Abitur begonnen: »Vom einen Lernen ins andere Lernen«, sagt sie. »Als ich meine Bachelorarbeit endlich fertig hatte, musste ich dann einfach mal raus.« Eine Woche, nachdem sie die Arbeit abgab, flog Lisa für sechs Monate nach Las Vegas.

Monika war noch nie in Las Vegas. Aber in Bornheim, wo sie aufgewachsen ist. Sie war ein zufriedenes und anständiges Kind, hat ihren Eltern kaum Probleme gemacht, sie mussten selten mit ihr schimpfen. Mit sechs Jahren begann sie Blockflöte zu spielen, auch auf Wettbewerben, ihre strenge Musiklehrerin bestand darauf. Fragt man Monika nach ihrer Kindheit, muss sie lange überlegen. Dann sieht sie aus dem Fenster, verzieht den Mund und sagt knapp: »Ich hatte immer alles, was ich wollte. Klar, auch materiell, aber vor allem Liebe und Zuneigung. Davon war viel da. Kann nicht klagen. Familie war gut.« Ihre Eltern ließen ihr viele Freiräume, Monika lernte früh, eigene Entscheidungen zu treffen. »Sie wollten vor allem, dass ich glücklich bin.«

So verschieden ihre Lebenswege auch sind, eines eint Gavin, Lisa und Monika: Sie beschreiben ihre Kindheit als glücklich. Das ist typisch – 92 Prozent der 12- bis 25-Jährigen beschreiben das Verhältnis zu ihren Eltern mindestens als gut. Selbst Kinder, deren Eltern sich geschieden haben – wie Lisas. Auch geschiedene Eltern sorgen in der Regel weiterhin gut für ihre Kinder. Das ist ein Ergebnis der Shell Jugendstudie 2015, die etwa alle vier Jahre ein umfassendes Bild der jungen Menschen in Deutschland zeichnet. Diese jungen Menschen sind heute vor allem die Kinder der 68er-Generation und ihrer Nachfahren. Der Jugendforscher Prof. Klaus Hurrelmann, der an der Shell Jugendstudie mitarbeitete, erklärt in der Studie den Zusammenhang: Während die 68er gegen die verstaubten Verhältnisse rebellierten und sich auch gegen ihre Eltern auflehnten, wollen sie den eigenen Kindern keinen Anlass zum Aufstand geben. Die Eltern erwarten zwar Leistung von ihren Kindern, bieten ihnen dafür aber auch länger ein harmonisches Zuhause.

Monika wohnt heute nicht mehr bei ihren Eltern. Als sie im dritten Semester war, zog sie aus. Von Bornheim in Bonns Nordstadt, etwa zehn Kilometer auseinander, in ein privates Studentenwohnheim. Dort hat sie 20 Quadratmeter für sich, eine gute Verkehrsanbindung und ist zufrieden. Sie studiert den Master of Mathematics, ein englischer Titel, denn die Mathematik in Bonn hat einen guten Ruf und viele internationale Studierende. Nebenbei gibt Monika Tutorien, meist für Informatik- und Lehramtsstudierende, und hilft bei der Korrektur von Klausuren. So verdient sie ihre Miete und muss ihren Eltern nicht auf der Tasche liegen.

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Monika, 23 (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Dass Monika nach dem Abitur studiert, war für sie keine Frage. »Die Schule hat mich nie genug gefordert. Ich wollte wissen, wo meine Grenzen liegen«, sagt sie und deutet mit ihren Unterarmen eine Schranke an. Dass Mathematiker gute Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben, ist für Monika ein glücklicher Zufall: »Ich musste mich nie entscheiden, zwischen dem, was ich konnte und dem, was gut für mich ist.« Wie Monika gibt es immer mehr Studierende, die von vorneherein wissen, dass sie nach der Schule ein Studium aufnehmen möchten: Ihre Zahl stieg von 51 Prozent in 2001 auf 58 Prozent im Jahr 2013. Und Kinder wie Monika, deren Eltern ebenfalls studiert haben, treffen die Entscheidung für ein Studium viel sicherer als Abiturienten aus bildungsfernen Elternhäusern.

Sich einer Entscheidung sicher sein – das ist so eine Sache. Als Lisa die Zusage bekam, dass sie für ein paar Monate in einem Hostel in Las Vegas arbeiten konnte, war sie sich ihrer Entscheidung sehr sicher. Als sie dann auf dem Hinflug am Flughafen von Chicago strandete, nicht mehr so ganz. »So lange war ich noch nie aus Deutschland weg. Das war was ganz Besonderes«, sagt Lisa. Sie redet immer schnell und viel, aber wenn es um »die Staaten« geht, sprudelt sie vor Begeisterung. Zweimal war sie für je drei Monate in Las Vegas – im letzten Sommer und noch einmal von Dezember bis März. Mit ihrem Besuchervisum durfte sie sich nur längstens drei Monate in den USA aufhalten. Im kleinen »Hostel Cat« arbeitete sie zuerst an der Rezeption – Gäste begrüßen, sie animieren, beim abendlichen Ausflug mitzukommen. Kundenkontakt war Lisa gewohnt, in Brühl arbeitet sie an der Kasse eines Buchgeschäfts, davor an der Kasse der Kölner Pferderennbahn. Bei ihrem zweiten Aufenthalt wurde sie zum »Head of Housekeeping« – den anderen Anweisungen geben, auch mal kritisieren – selbst im freundschaftlichen Ton fiel ihr das nicht immer leicht. Für ihre Jobs wurde sie nicht bezahlt, aber konnte kostenlos im engen Personal-Schlafraum des Hostels wohnen. Mit ihr waren zwanzig andere junge Menschen im Hostel beschäftigt, die aus der ganzen Welt kamen: »Das war wahnsinnig interessant – so viele verschiedene Persönlichkeiten, Sprachen, Kulturen, mit denen man lange zusammenleben muss.«

Seit April läuft ihr Masterstudium in Bonn. Es macht ihr viel Spaß, sie liebt die englische Sprache, den Austausch über englische Literatur. »Aber ich studiere den Master auch, weil ich das zu Ende bringen will, was ich angefangen habe. Der Abschluss wird eine gute Basis sein.« Für die Sozialforscher der Uni Konstanz ist das eine besonders wichtige Frage. Warum entscheiden sich Studierende für ihr Studienfach? Der Hauptgrund ist tatsächlich das Interesse an ihrem Fach – mit 74 Prozent. Dann folgen Faktoren wie die eigene Begabung (60 Prozent) und die Vielfalt von beruflichen Möglichkeiten (48 Prozent). Motive wie ein hohes Einkommen (28 Prozent) oder die Aussicht auf eine Führungsposition (16 Prozent) rangieren weiter hinten. Dies gilt für Studierende an Universitäten. Studierende an Fachhochschulen legen dagegen mehr Wert auf ein hohes Einkommen (37 Prozent) und die Aussicht auf eine Führungsposition (30 Prozent).

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Lisa, 22 (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Führungsposition?« Monika lächelt. In einer Führungsposition kann sie sich noch nicht vorstellen. »Im Studium fühle ich mich von allem fern, was man Arbeitswelt nennen könnte«, sagt sie. Ihre Noten sind Monika wichtig. Sie lernt nicht »auf Bestehen«, sondern so viel, wie sie kann. »Aber selbst dann bekommt man keine 1,0. Eigentlich muss man noch mehr lernen, als es geht.« Monika sagt, ihr geht es nicht so sehr darum, am Ende ein gutes Masterzeugnis zu bekommen. Es ist ihr eigener Ansporn, das »schöne Gefühl«, wenn man in der Prüfung eine 1 hat. Bei Lisa ist das ähnlich: Ein gutes Masterzeugnis ist zwar eine tolle Sache, aber ein Arbeitgeber, dem die Note wichtiger ist als Charakter und Engagement des Bewerbers – nein, das findet sie blöd. »Es ist wichtig, mit der eigenen Persönlichkeit zu überzeugen, nicht mit der Note.«

Ein Bachelor- oder Masterzeugnis hatte Gavin nicht, um seinen Arbeitgeber zu überzeugen. Er arbeitet als freier Autor für den Online-Auftritt eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders. Immer wieder moderiert er auch verschiedene Veranstaltungen – im Juli etwa eine Pyrotechnik-Show in Bottrop. Oder seine eigene kleine Late-Night-Show, die er mit Freunden ein paar Mal im Jahr vor Publikum präsentiert. Oder eine Radio-Talkshow, die aber nur im Internet läuft. Mit diesen Projekten verdient er nicht immer Geld, oft kostet es ihn sogar welches. Gelegentlich ist er auch noch in seinem gelernten Beruf als Veranstaltungskaufmann unterwegs.

Mit 21, direkt nach dem Abitur, war er bei seinen Eltern ausgezogen. Er landete in einer WG in Köln, die sich nur über das Internet zusammengestellt hatte. Eine schlechte Idee, einer der Mitbewohner »war eine soziale Katastrophe«, sagt Gavin. Danach wohnte er mit seiner damaligen Partnerin zusammen, dann allein. Heute lebt er mit seiner Freundin in der Bonner Altstadt. Und Gavin lebt im Internet. Aber nicht alleine: Bei Twitter folgen ihm über 2.000 Menschen, die täglich seine pointierten 140-Zeichen-Botschaften lesen. Seit zehn Jahren gibt es Twitter, seit acht Jahren ist er dabei. Er hat einige seiner besten Freunde dort kennengelernt, seinen Job gefunden. »Ich profitiere mittlerweile mehr von Twitter, als Twitter von mir.« Sein Vater ist Softwareentwickler, den ersten Computer bekam Gavin mit sechs Jahren, da veröffentlichte Microsoft gerade Windows 95. Mit zehn meldete Gavin bei WEB.de seine erste E-Mail-Adresse an – eine seiner frühen Erinnerungen ans Internet. 2001 registrierte er sich bei ICQ, seine Nummer kennt er noch heute. Neun Stellen, vorne eine 1 – etwas Besonderes. Seine Freunde meldeten sich erst später an und bekamen viel längere Nummern.

Das erste Handy bekam Gavin mit elf. Ein NOKIA 33 10, robust, aber nicht mehr als ein Gerät zum Telefonieren, SMS schreiben und Snake spielen. Lisa und Monika haben ähnliche Erinnerungen an ihr erstes Mobiltelefon. Das nutzten sie vor allem, um mit den Eltern zu telefonieren – Bus verpasst, Turnbeutel vergessen, früher Schule aus. Kein Spielzeug, kein allgegenwärtiges Lexikon oder Unterhaltungsinstrument. Heute haben sie alle drei ein Smartphone.

Gavin hat sein iPhone immer im Blick, kein Wunder, er bekommt im Sekundentakt Benachrichtigungen. Er nutzt Snapchat, Instagram, Periscope, Flickr, vor allem aber Twitter und Facebook. Nur Tumblr und Pinterest mag er nicht. Gavin ist ein Meister des Social Webs. Das ist der Teil des Internets, den 90 Prozent der 12- bis 25-Jährigen regelmäßig nutzen, 57 Prozent mindestens einmal am Tag. Damit liegen die sozialen Netzwerke weit vorn in der Gunst der jungen Menschen. Nur 37 Prozent nutzen das Internet hingegen mindestens einmal in der Woche, um sich über Politik und Gesellschaft zu informieren, viel häufiger hören sie online Musik, chatten oder spielen. Dabei stehen viele junge Menschen den sozialen Medien eigentlich kritisch gegenüber, auch das zeigt die Jugendstudie von Shell: 61 Prozent der 22- bis 25-Jährigen sind sich bewusst, dass Konzerne wie Facebook mit den Nutzerdaten viel Geld verdienen. Die jüngeren Nutzer sind weniger kritisch.

Kritisch gering ist auch das Interesse an Politik: Zwar stieg es bei den 12- bis 25-Jährigen in den letzten Jahren auf 41 Prozent in 2015, während es 2010 noch bei 36 Prozent lag – doch viel ist das nicht. Gavin ist politisch. Anders geht es nach seinem Verständnis auch gar nicht: »Man kann nichts Unpolitisches machen. Alles ist politisch.« Diese Auffassung nennt Jugendforscher Hurrelmann charakteristisch für diese Generation: Die jungen Menschen begreifen Politik stärker denn je als ganzheitlich – nicht mehr als die klassische, abgegrenzte Parteipolitik. Eine gemeinsame Solidarisierung, die sich früher schon mal in großen Demonstrationen äußerte, kennt diese Generation nicht mehr, schreibt Hurrelmann. Wenn sie Engagement zeigt, dann »aus einer Mischung aus Eigeninteresse mit dem Ziel der Selbstentfaltung und der Erwartung, auf diese Weise würde indirekt auch die Gesellschaft profitieren.«

Studieren, arbeiten, verreisen – das alles verändert sich, wenn man Kinder hat. Gavin, Lisa und Monika wünschen sich Kinder. Noch nicht jetzt sofort, aber wenn es finanziell möglich ist, wenn der Job passt, wenn der richtige Moment da ist, dann schon. In ihrer Altersgruppe geht der Kinderwunsch allerdings zurück: Von den 12- bis 25-jährigen Befragten der Shell-Studie wünschen sich nur noch 64 Prozent Kinder, 2010 waren es 69 Prozent. Und wie wichtig ist eine eigene Familie für das persönliche Glück? Auch hier ist der Zuspruch seit 2010 gesunken, besonders die männlichen Befragten machen ihr Glück nicht mehr so stark von einer eigenen Familie abhängig.

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Monika, 23 (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Egal, ob Kinder oder nicht – wichtig ist den jungen Menschen auch eine gute Arbeit. Darunter verstehen sie nicht nur ein hohes Einkommen, sondern auch Faktoren wie die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. »Weiche Faktoren« nennt das der Sozialforscher Hurrelmann. Dass junge Menschen viele Erwartungen an ihren Arbeitgeber haben, ist eine neue Entwicklung, die in der aktuellen Jugendstudie zum ersten Mal untersucht wurde: »Und da kommt heraus, dass natürlich in Zeiten unsicherer Arbeitsverträge Sicherheit ganz oben steht. Auch andere Dinge, wie guter Verdienst und ein angenehmes Arbeitsverhältnis spielen eine große Rolle«, schreibt Hurrelmann. Aber eben auch die weichen Faktoren: persönliche Erfüllung, Entfaltung und Spaß an der Arbeit. Menschen, die von ihren Eltern gut umsorgt wurden, erwarten das auch von ihrem Arbeitgeber. Vor allem von jungen Frauen werde zudem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie thematisiert. »Für mich ist das absolut kein Widerspruch«, sagt Monika. Auch Gavin und Lisa wollen von ihrem Arbeitgeber nicht gezwungen werden, sich für eines zu entscheiden. »Ich denke, die Unternehmen werden merken, was hier für eine selbstbewusste Generation kommt, darunter immer mehr Frauen«, schreibt Hurrelmann. Für ihn ist klar: Diese Generation will sich und ihre individuellen Wünsche, Ziele und Kompetenzen in den Beruf einbringen: »Und Unternehmen, die das nicht anbieten können, werden in den kommenden Jahren ganz große Schwierigkeiten haben, hochqualifizierte junge Leute zu bekommen.«

Wenn das Wintersemester beginnt, will Gavin kein Student mehr sein. Der Status als »Passivstudent« macht ihn nicht glücklich. Er will seine freie Mitarbeit für den Radiosender vorantreiben. »Und dann? Mal sehen.« Große Pläne für die Zukunft macht er nicht. Hat er Angst vor der Zukunft? »Nö. Ich hab Bock. Ich freue mich auf meine Zukunft.« Das sehen 61 Prozent der jungen Menschen ähnlich. Sie blickten 2015 optimistisch in die Zukunft, mehr als 2010 (59 Prozent), mehr als 2006 (50 Prozent) und mehr als 2002 (56 Prozent).

Die Zeit in Las Vegas hat Lisa verändert. Die Mentalität dort hat ihr geholfen, nicht immer alles zu skeptisch zu sehen. »Früher hatte ich so eine ›Alles geht schief‹-Einstellung. Das hat sich geändert. Heute sage ich deutlich häufiger ›Das wird schon.‹« Auch sie macht sich noch keine Gedanken über die Zeit nach dem Studium. »Wenn man keinen Plan hat, kann der auch nicht schiefgehen. Aber vielleicht bin ich eines Tages mal nicht mehr in Deutschland. Wer weiß.«

Auch Monika ist eher mit der Gegenwart als der Zukunft beschäftigt. Gerade hat sie ihre Masterarbeit angemeldet – Abgabe ist im Mai 2017. »Eine gewisse Vorstellung meiner Zukunft habe ich zwar. Aber was heißt das schon? Es kann sich einfach so viel ändern. Ich bin frohen Mutes, dass nichts Schlechtes auf mich wartet.«


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G’schichten aus dem Hofgarten

HOFGARTEN-HISTORIE  Mein Freund, der Rasen: Wenn die Hofgartenwiese sprechen könnte, würde sie uns die bewegendsten, haarsträubendsten Geschichten erzählen. Von Kartoffeln, einer halben Million Füße und Willy Brandt.

VON EVA FÜRST

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Der Bonner Hofgarten mit Hauptgebäude (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Samstagmorgens, acht Uhr: das Gras auf der Hofgartenwiese ist noch ein wenig nass. Hundebesitzer stehen gähnend in Grüppchen zusammen und werfen Bälle, die dann von ihren Hunden begeistert gejagt werden. Vereinzelt zeugen kleine Müllhaufen von dem lebendigen Abend, den die Parkwiese vor wenigen Stunden erlebt hat. Im Sommersemester sieht man den Hofgarten selten leer – wann immer es das Wetter und der Stundenplan erlaubt, tummeln sich Grüppchen von Studierenden, junge Familien, Schüler, Sportgruppen, Rentner, Menschen die ihre Hunde lüften, Gitarrenspieler, Jongleure und Slackliner im Park vor dem Hauptgebäude. Trotz unmittelbarer Nähe zur Innenstadt ist die Wiese ein Ort der Entspannung, der jedem in Bonn bekannt ist. Doch wie gut kennt man den Hofgarten wirklich? Die Uniwiese hat faszinierende Geschichten zu erzählen – hier eine Auswahl.

Studierende, die vor 2012 angefangen haben in Bonn zu studieren, erinnern sich vermutlich noch an das Parkhaus, das unter dem Rasen liegt. Die Einfahrt in Rheinnähe ist seit 2012 mit einer Kette verhangen; die ebenfalls gesperrte Ausfahrt in der Nähe des Kaiserplatzes ist vermutlich etwas bekannter, da der Kaffeeroller sich direkt daneben befindet. Angeblich soll die Garage 2017 wieder eröffnet werden, bis dahin muss die Zwischendecke noch komplett erneuert werden.

Wer in den 1980ern schon in Bonn unterwegs war, wird mit dem Hofgarten die Friedensbewegung und die damit einhergehenden Demonstrationen verbinden. Am 10. Oktober 1981 versammelten sich rund 250.000 friedliche Demonstranten aus ganz Westdeutschland auf der Uniwiese, um ihrer Unzufriedenheit mit dem NATO-Doppelbeschluss Ausdruck zu verleihen. Es war die bis dato größte Demonstration ihrer Art in der jungen Bundesrepublik Deutschland. Und auch die friedlichste, mit nur elf Verhaftungen wegen leichter Vergehen. Die Demonstranten forderten die damals noch nahe residierende Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt auf, die Aufrüstung mit Atomwaffen im Rahmen des Kalten Krieges zu stoppen. Während Redner wie Schriftsteller Heinrich Böll sich öffentlich solidarisch mit der Friedensbewegung zeigten, tauchten einige Mitglieder der SPD lieber in der Menge unter, da ihnen unter anderem mit dem Parteiausschluss gedroht wurde. Zwei Jahre später versammelten sich erneut 200.000 Demonstranten zum Höhepunkt der Proteste, um der Hauptkundgebung zu lauschen. Unter ihnen waren mehrere Bundeswehrsoldaten in Uniform, die ihrem Frust über die deutsche Politik im Kalten Krieg Ausdruck verliehen. Wieder sprach Heinrich Böll, es waren Aktivisten aus den USA angereist, die schon bei der Menschenrechtsbewegung der sechziger Jahre dabei waren. Nun war auch Willy Brandt auf der Bühne, um Kanzler Schmidt heftig zu kritisieren. Der Hofgarten bot den nötigen Platz, das Universitätshauptgebäude die Atmosphäre für den Protest gegen Aufrüstung, Krieg und blinden Zorn.

Diese Demonstrationen sind der Grund, warum der Hofgarten in die Route des »Weges der Demokratie« aufgenommen wurde. Sie sind Ende der achtziger Jahre allerdings auch Anlass dafür, die Hofgartenwiese für Großveranstaltungen wie Demonstrationen zu sperren – die Universität hatte sich vor Gericht das Hausrecht über den Platz erstritten und entscheidet seither darüber, welche Veranstaltungen vor dem Hauptgebäude stattfinden dürfen. Demonstrationen gehören nicht mehr dazu. Doch der Hofgarten hat auch dunkle Zeiten gesehen. Während der NS-Diktatur fanden hier Aufmärsche statt, während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ehemals dekorative Parkwiese als Kartoffelacker genutzt, um die hungernde Bonner Bevölkerung zu ernähren.

Wie bereits erwähnt: Dies ist nur eine Auswahl der Ereignisse, die auf dem und um den Hofgarten herum stattfanden. Und auch, wenn es den meisten Bonnern nicht bewusst ist, dass ihre grüne Oase in der Innenstadt auch ein geschichtsträchtiger Platz ist: Die Wiese bleibt durch sie doch ein belebtes Zentrum des Stadtgeschehens, und wird als solches vielleicht sogar irgendwann wieder Schauplatz eines historischen Ereignisses.


Beschlossene Sache

RUBRIK SP-BESCHLÜSSE  Seit seiner Wahl im Januar hat das 38. Studierendenparlament bereits einige Dinge beschlossen. Unter den Beschlüssen sind alte Bekannte und einige Neuerungen – ausgewählte Beschlüsse stellen wir hier vor.

VON SVEN ZEMANEK & ALEXANDER GRANTL

Das 38.

Das 38. Studierendenparlament bei der Arbeit (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

24. März 2016
Kritik an Empfehlung des Senats der Leibniz-Gesellschaft, Förderung der ZB MED einzustellen
Die ZB MED bietet bislang unter anderem Studierenden der sogenannten Lebenswissenschaften eine große Auswahl an Büchern, Zeitschriften und Beratungsmöglichkeiten. Eine Informatikprofessur befindet sich derzeit im gemeinsamen Berufungsverfahren. Mit der Empfehlung des Senats, die Förderung einzustellen, ist all dies gefährdet.

Diesen Antrag brachte die Fraktion der Juso-Hochschulgruppe ein, bei zwei Enthaltungen wurde er einstimmig angenommen.

24. März 2016
Einrichtung eines UniCard-Ausschusses
Der neue UniCard-Ausschuss soll nach der erfolgten Urabstimmung über die Einführung und Teilfinanzierung der Einführung einer UniCard die Lage sondieren.

Diesen Antrag brachte die Fraktion der Juso-Hochschulgruppe ein. Der Ausschuss hat sieben Mitglieder. Er soll die Arbeit des Vorgänger-Ausschusses weiterführen.

24. März 2016
Einladung des Rektors
Der nicht-mehr-ganz-so-neue Rektor wird zu einem Antrittsbesuch ins Studierendenparlament eingeladen. Die Fraktionen sollen vorab Fragen einreichen, Präsidium und AStA das Event im Vorfeld groß bewerben.

Dieser Antrag wurde vom Bündnis »SparUni Bonn« gestellt. Der Rektor bekundete bereits im AKUT-Interview im Dezember sein Interesse daran, das SP zu besuchen.

24. März 2016
Einrichtung eines Ausschusses für die Belange des Studierendenwerks
Die Ausschussmitglieder sollen studentische Ansprechpartner für das Studierendenwerk (StwB) und Bindeglied zwischen studentischer Selbstverwaltung in den Wohnheimen und dem Studierendenwerk sein.

Der Ausschuss hat 9 Mitglieder. Der Antrag wurde vom damaligen kommissarischen Finanzreferenten eingebracht. Nach einem Änderungsantrag durch die Juso-HSG werden die studentischen Mitglieder des StwB-Verwaltungsrats beratende Ausschuss-Mitglieder.

24. März 2016
Kooperationsvertrag mit dem Deutschen Museum
Zum Preis von 2000 Euro jährlich für die Studierendenschaft dürfen die Studierenden der Uni Bonn kostenlos das Deutsche Museum in Bonn besuchen.

Das Deutsche Museum in Plittersdorf zeigt etwa 100 zeitgenössische Exponate aus Naturwissenschaft und Technik. Durch die Kürzung von Zuschüssen der Stadt Bonn ist es von der Schließung bedroht.

24. März 2016
Kooperationsvertrag mit dem Beethoven-Haus Bonn
Zum Preis von 2000 Euro jährlich für die Studierendenschaft dürfen die Studierenden der Uni Bonn kostenlos das Museum des Beethoven-Hauses Bonn besuchen.

Das Beethoven-Haus in Bonn ist ein Museum und Kulturinstitut, zu dem unter anderem Beethovens Geburtshaus in der Bonngasse gehört.

24. März 2016
Freitisch Syrische Studierende
Für das Jahr 2015 bezahlt die Studierendenschaft die Hälfte der Kosten (etwa 1000 Euro). Die Aktion soll auch 2016 weitergeführt und -finanziert werden.

Als »Freitisch« wurden in der frühen Neuzeit kostenlose Mahlzeiten für Studenten bezeichnet.

24. März 2016
Förderung studentischer Kinderbetreuung
Die Förderung der studentischen Kinderbetreuung wird bis zum Ende des Sommersemesters 2017 verlängert. Geld beantragen können Kindertagesstätten, -krippen, -häuser oder Elterninitiativen, die Kinder studentischer Eltern unter drei Jahren betreuen, sowie Studierende, die ihre Kinder im Alter von bis zu sechs Jahren in solchen Einrichtungen betreuen lassen.

Die letzte Verlängerung des Vertrags, der 2015 auslief, wurde 2014 beschlossen.

20. April 2016
Dienstleistungsvertrag über eine Landes-ASten-Treffen-Koordination
Der AStA der Ruhr-Universität Bochum stellt der zentralen Landes-ASten-Treffen-Koordination u.a. einen möblierten Arbeitsraum und eine finanzielle Aufwandsentschädigung zur Verfügung und erhält dafür von den beteiligten ASten Geld.

Die verfasste Studierendenschaft der Uni Bonn zahlt derzeit etwa 3000 Euro jährlich.

20. April 2016
Änderung der Studiticket-Richtlinie (RLST)
Diese Änderung der Richtlinie für die Rückerstattung des Semesterticketbeitrags enthält vor allem Anpassungen an die Rechtslage. Außerdem ist die Einführung eines Onlinesystems für die Antragsstellung geplant.

Auch hier verliert der Ältestenrat seine Funktion als Widerspruchsorgan.

3. Mai 2016
Richtlinie für die Förderung studentischer Gruppen
Diese Änderung der Richtlinie betrifft vor allem studentische Gruppen, die auf dem Kulturplenum Geld beantragen wollen.

Am Entwurf gab es viel Kritik, der Haushaltsausschuss legte eine lange Liste mit Änderungsvorschlägen vor.


Editorial | AKUT 341

Hallo,

jetzt musstest du sicher erst mal einen Blick in den Spiegel werfen, richtig? Da schreiben wir einfach »Das bist du« auf unser Cover, obwohl du das gar nicht bist. Lügen-AKUT! Aber, bevor wir dich in eine Identitätskrise treiben: In unserer Titelgeschichte geht es tatsächlich um dich. Wir wollten herausfinden, was junge Menschen mit ihrem Studium, ihrer Zukunft, ihrem Leben vorhaben. Drei Studierende versuchen, das zu beantworten. Spoiler: Es gelingt ihnen nicht. Aufschlussreich ist der Text dennoch. Warum unsere Generation die Arbeitswelt verändern wird, was man sechs Monate in Las Vegas tun kann und was ein »Passivstudent« ist – alles hier zu lesen.

Im Januar fanden neben den Wahlen zum Studierendenparlament auch zwei Urabstimmungen statt. AKUT-Redakteur Sven hat dazu einen Kommentar geschrieben. Die Überschrift lautet »Musste das wirklich sein?« und könnte bereits ein vager Hinweis auf Svens Meinung über die Abstimmungen sein – hier zu finden.

Redakteurin Juliane hat sich in den letzten Wochen genau angesehen, was Flüchtlinge tun müssen, um an der Uni Bonn zu studieren. Ihr Fazit: Sie müssen einiges tun, denn der Weg ins Studium ist lang und kompliziert. Wie die Uni Bonn und der AStA dabei helfen wollen, steht in ihrem Bericht.

Willst du uns deine Meinung zu diesem Heft sagen? Oder hast du eine Geschichte, die unbedingt in die AKUT muss? Oder ein süßes Tierfoto? Egal, was du uns erzählen willst, wir haben überall ein offenes Ohr – bei Facebook, Twitter, Instagram und natürlich per E-Mail. Wie genau du uns erreichen kannst, steht auf akut-bonn.de/leserbriefe

Nach 20 Monaten endet jetzt meine Zeit in der AKUT- Redaktion. Im Vergleich zur 67-jährigen Geschichte der AKUT sind 20 Monate nicht viel. Aber in dieser Zeit ist viel passiert – und die AKUT ist auf einem guten Weg. Ich danke unseren Leserinnen und Lesern, allen engagierten Studierenden und der ganzen Redaktion, die ich als sehr professionelles Team erlebt habe.

Viel Freude beim Lesen

Alex Grantl


Musste das wirklich sein?

KOMMENTAR  Viel Aufregung gab es im Januar um die Urabstimmungen zu Unicard-Einführung und fzs-Austritt. Doch die beiden Abstimmungen waren flüssiger als Wasser – nämlich überflüssig.

VON SVEN ZEMANEK*

Ausgefüllte Stimmzettel nach ihrer Auswertung

Ausgefüllte Stimmzettel nach ihrer Auswertung (Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Urabstimmungen also. Hatten wir lange nicht mehr. Im Jahr 2008 war die letzte. Und jetzt gleich zwei! Donnerwetter.

Thema eins: Einführung und Teilfinanzierung der Einführung einer UniCard. Dass »die Studierenden« die UniCard wollen, wissen wohl alle, die sich schon einmal mit Angehörigen dieser Gruppe unterhalten haben. Und wenn man auch nicht mehr als bisher dafür zahlen muss, kann man das Kreuz auch unter Frage zwei bei »Ja« machen. Das Ergebnis – 84 bzw. 65 Prozent Zustimmung – dürfte also niemanden überraschen.

Doch was sollte das mit der Fragestellung? Zwei Fragen gleichzeitig! Das sieht die Satzung der Studierendenschaft, in der Urabstimmungen geregelt sind, gar nicht vor. Die Auszählung wird dadurch ebenfalls verkompliziert. Überspezifisch waren die Fragen außerdem: Alle möglichen Funktionen einer UniCard wurden explizit aufgezählt, wie Fahrausweis, Bibliotheksausweis oder Zugang zum Hochschulsport. Sollte in Zukunft einmal eine UniCard eingeführt werden, der auch nur eine der aufgezählten Funktionen fehlt, wäre selbst bei erreichtem Quorum das Ergebnis der Urabstimmung technisch betrachtet nicht relevant.

Bleibt die zweite Urabstimmung über die Mitgliedschaft im Dachverband »freier zusammenschluss von studentInnenschaften«. Hier durften wir als Wahlausschuss uns anhören, dass die Fragestellung doch arg tendenziös sei, da in der Frage die jährlichen Kosten von 26.800 Euro für die Mitgliedschaft erwähnt wurden. Außerdem sei der Titel »Urabstimmung über die Mitgliedschaft« falsch, da man sich mit einer »Ja«-Stimme gegen die Mitgliedschaft entscheide. Beides Dinge, für die wir als Wahlausschuss rein gar nichts können – Titel und Text der Urabstimmung stammten aus dem eingereichten Urabstimmungsverlangen. Daran hat dann auch niemand mehr herumzupfuschen.

Das Hauptproblem dieser Abstimmung war allerdings, dass man den Abstimmungsberechtigten erst einmal erklären musste, was der fzs eigentlich für ein Verein ist. Diese Erfahrung machten bereits die Mitglieder des Aktionsbündnisses gegen den fzs, als sie Unterschriften für ihr Urabstimmungsverlangen sammelten (siehe AKUT Nr. 338). Es war daher eigentlich von vornherein klar, dass das Ergebnis eher zufällig zwischen den Optionen »Ja«, »Nein« und »Enthaltung« verteilt sein würde. Mit Tendenz zum »Ja«, denn wer spart nicht gern, wenn es angeblich etwas zu sparen gibt.

Vom Quorum wollen wir gar nicht erst anfangen. 20 Prozent Ja-Stimmen von allen 35.000 Studierenden erreichen zu wollen, war ausgehend von der üblichen Wahlbeteiligung schon mit einer utopischen Zustimmungsquote von 100 Prozent sehr sportlich. Und selbst wenn die UniCard-Abstimmung das Quorum erreicht hätte: Einführen kann die UniCard nur die Universität. Und die dürfte durch die Abstimmung keinen Erkenntnisgewinn haben: Dass die Mehrheit der Studierenden die UniCard konzeptuell geil findet, war bereits vorher bekannt.

Was von beiden Abstimmungen bleibt, sind die Kosten: 430 Euro für Abstimmungszettel, 2000 Euro zusätzliche Aufwandsentschädigung für den Wahlausschuss, Verwirrung an der Urne (wobei da auch die vielen, vielen Gremienzettel schuld waren), eine rechtliche Auseinandersetzung zwischen Wahlausschuss und Universität um den Versand einer E-Mail an alle Studierenden, die der Wahlausschuss übrigens verloren hat, und eine sehr lange Auszählung. Das alles hätten wir uns sparen können.

Etwas Positives gibt es auch: Nach langer Zeit wurde das Wissen aufgefrischt, wie eine Urabstimmung zu organisieren ist. Das wäre aber trotzdem nicht nötig gewesen.


*Sven Zemanek studiert Computer Science. Er hat die Urabstimmungen als stellvertretender Wahlleiter mitorganisiert, aber schreibt hier nur für sich selbst.


WG besucht!

Wir besuchen eine Dreier-WG im renovierten Altbau in der Südstadt. Paula, Pina und Fabian sind 21 und studieren Psychologie, Germanistik, Politik und Gesellschaft. Die beiden letzteren sind ein Paar, seit einem Jahr macht Paula die gemütliche »Tatort-und-Pizza-WG« komplett.

VON SOPHIE LEINS

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Woher kommt ihr?
PA  Ich komme aus Rheine im Münsterland.
PI  Wir beide kommen aus Hamburg.

Seid ihr die typische »Sponsored-By-Daddy-WG«?
PI  Ja, das waren wir, aber seit diesem Sommer stehen wir sozusagen alle in »Lohn und Brot«. Wir arbeiten alle drei neben dem Studium.

Wie viel Miete bezahlt ihr?
PA  Ich zahle am meisten – 360€.
PI  Wir beide zahlen je 320€, aber wir teilen uns auch ein Zimmer.
F  Und wir alle teilen uns das Wohnzimmer, Küche und Bad.

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Was unterscheidet euch von anderen WGs?
F  Wir sind jung, reich und schön.
PI  Viele WGs sagen ja, dass sie viel miteinander unternehmen, aber ich finde, wir machen wirklich sehr viel miteinander.
PA  Und wir kennen auch richtig viele Leute aus dem Leben der anderen, auch die Familien.

Habt ihr ein WG-Ritual?
F  Pizza kaufen. Tatort schauen. Schnauze halten.
PI  Und das jeden Sonntagabend.

Was war bisher euer schönstes WG-Erlebnis?
F  Unsere Party. Die war pornös.
PI  Wir haben eine »Porno-Party« im Geiste unserer großen Vorbilder Jan Böhmermann und Olli Schulz gemacht. Wir haben die ganze Wohnung mit Erotik-Zeitschriften dekoriert, die wir mit ausgeschnittenen Köpfen der eingeladenen Freunde verziert haben.PA  Und wir machen schöne Ausflüge!

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Was nervt an den anderen?
PA  An Fabian nervt, dass er lange das Bad blockiert. Und sein Flaschenpfand, das er nie wegbringt. Wenn Pina und ich dann die Flaschen in riesigen IKEA-Taschen abtransportieren, werden wir echt doof angeschaut.
PI  Und Paula lernt laut, das nervt auch.

Wenn ihr eurer WG einen Namen geben müsstet, wir würdet ihr sie nennen?
F  »Flotter Dreier«.

Mit dem Pflugsimulator aufs Feld

AUSSTELLUNG  Die Ausstellung »Revolution jungSteinzeit« im LVR-Landesmuseum zeigt bis April Fundstücke aus der Zeit, in der die Menschen sesshaft wurden. Auch im Rheinland finden sich noch heute Spuren aus der Jungsteinzeit. Wie lebten die Menschen damals?

VON MAIKE WALBROEL

(Foto: Maike Walbroel / AKUT)

(Foto: Maike Walbroel / AKUT)

In der Colmantstraße bekommt man eine ungefähre Ahnung davon, wie jungsteinzeitliche Behausungen aussahen. Gebaut wurde natürlich mit Holz, die Häuser waren teilweise über 60 Meter lang und hatten eine Wohnfläche von 100 bis 350 Quadratmetern. Für die ca. zehn Bewohner war also reichlich Platz vorhanden. Damit es im Inneren nicht kalt oder nass wurde, »verputzten« die Menschen ihre Wände mit Lehm und dichteten die Dächer ab, die meist mit Holz, Rinde oder auch Getreide gedeckt waren. Der Rohbau eines solchen Langhauses steht derzeit vor dem Museumsgebäude.

Zum Überleben brauchte es allerdings auch damals schon mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Energie musste her und zwar in Form von Nahrung. Wer nun an karge Kost in Form von Nüssen, Beeren und Wurzeln denkt, irrt gewaltig: Gerste, Honig, Brot, Pilze, Fenchel, Sellerie, Linsen, Erbsen, Brombeeren, Erdbeeren, Vogeleier und Salz sind nur einige Beispiele für Nahrungsmittel, die es damals schon gab. Dieser Speiseplan ist natürlich noch nicht vollständig – Fleisch, aber auch Milcherzeugnisse gehörten vor 7000 bis 5000 Jahren schon dazu.

Anstatt weiterhin zu jagen, wurden Tiere domestiziert und versorgten die Menschen mit Milch, Trockenkäse und –quark, aber auch mit Fleisch. Das eigene Vieh war allerdings recht wertvoll und nicht in erster Linie als Fleischlieferant gedacht.

Beim Ackerbau konnten Ochsen helfen – z.B. vor einem Pflug. Dass Pflügen mehr ist, als hinter einem Tier herzulaufen, das schweres Gerät über das Feld zieht, kann man selbst ausprobieren: Mit dem Pflugsimulator im Museum. Während man den Pflug mühsam in die Erde drückt, bewegt sich auf einem Bildschirm ein Ochse über das Feld – jede Unsicherheit quittiert er mit einem Muhen. Am Ende gibt es eine Rückmeldung über die eigenen Fähigkeiten als Ackerbauer.

Gejagt und gefischt wurde natürlich weiterhin – mit Waffen. Diese herzustellen war recht langwierig: Jede Speer- oder Pfeilspitze musste von Hand auf einem Schleifstein bearbeitet werden – auch das können die Besucher des LVR-Museums versuchen. Von der Steinzeit spricht man übrigens, weil archäologische Funde aus dieser Zeit vor allem aus Stein sind

Die harte tägliche Arbeit ging nicht spurlos an den Menschen vorbei: Manche bekamen von ständigen Erkältungen chronische Entzündungen, andere brachen sich bei der Arbeit den Arm. Heute wäre das alles leicht zu behandeln – in der Jungsteinzeit aber wussten die Menschen meist nicht einmal, was genau ihre Schmerzen auslöste. Einen Eindruck davon gewinnt man, wenn man am sogenannten »Schicksalsrad« dreht: Das Rad bleibt bei einer Person stehen und diese erzählt ihr persönliches Schicksal – von der schweren Arbeit und ihren körperlichen Beschwerden. Unwetter, Dürre oder Schädlingsbefall konnten ebenso wenig beeinflusst werden wie die eigene Gesundheit. Waren die Menschen krank oder ihre Ernte verdorben, so konnte dies das Ende einer Sippe bedeuten.

Eine Revolution im herkömmlichen Sinne gab es in der Steinzeit nicht, aber mit den Erfindungen – u.a. dem Rad – und den neuen Behausungen brachen die Menschen vor ca. 7000 Jahren mit ihrem bisherigen Leben als Jäger und Sammler. Die moderne Zivilisation entstand, in der mehrere Menschen in festen Häusern als Dorfgemeinschaften zusammen leben, ihre Nahrung selbst anbauen, Vieh halten und aktiv Einfluss auf die Natur nehmen. Der Titel der Ausstellung ist somit leicht irreführend. Im Museum finden sich neben Steinen und Scherben aber auch originalgetreue Nachbauten von Alltagswerkzeugen und Gebrauchsgegenständen. Der Schwerpunkt liegt auf Fundstücken der großen Ausgrabung einer Siedlung in Köln-Lindenthal Anfang des vorigen Jahrhunderts. Ausgestellt sind Tonscherben, aber auch Originalfotos von den Grabungen und ein Lageplan des steinzeitlichen Dorfes.Aus der Jungsteinzeit bleiben uns nicht nur tote Steine, sondern auch wichtige Erfindungen. Wer erfahren möchte, wo unser modernes Leben in seiner Grundform herkommt, der kann dies bei einem Besuch im LVR LandesMuseum Bonn erfahren. Der Eintritt ist für Bonner Studierende übrigens frei.

Menschen, die in Autos sitzen

MITFAHRGELEGENHEITEN  AKUT-Redakteurin Sophie verbringt viel Zeit in fremden Autos. Dabei stellte sie fest, wie viel sie durch ihre Mitfahrer über die deutsche Gesellschaft lernt und dass man auf der Autobahn auch empirische Forschung betreiben kann.

VON SOPHIE LEINS

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

(Foto: Alexander Grantl / AKUT)

Ein sonniger Freitagvormittag. Ich stehe mit meinem Rucksack auf dem Parkplatz gegenüber dem Hauptbahnhof in Bonn und warte auf einen Unbekannten. Wie fast jedes Wochenende mache ich mich dank Fernbeziehung auf den Weg durch Deutschland. Von West nach Ost, von Nordrhein-Westfalen nach Thüringen. Und zwar nicht allein. Nicht mit Bahn oder Fernbus. Sondern mit der guten, alten Mitfahrgelegenheit (MFG).

Gut und alt? Alt auf jeden Fall, immerhin sind schon unsere Eltern mit Fahrgemeinschaften gefahren, die sie noch über Mitfahrzentralen oder Schwarze Bretter gefunden hatten. Mittlerweile gibt es die Mitfahrgelegenheit 2.0, über Plattformen im Internet vermittelt und bequem als App verfügbar. Aber gut? Ich gebe zu, auch ich hatte mich nach einer intensiven Mitfahrphase auf bequemere Verkehrsmittel verlegt. Dieser Redezwang, unseriöse Anbieter, die das Ganze als Geschäft betrieben, mit Neunsitzern immer die gleichen Strecken abfuhren und bei der Abfahrt plötzlich höhere Preise verlangten als abgemacht, schließlich die Gebühr, die das verbreitetste Mitfahrportal mitfahrgelegenheit.de plötzlich verlangte. Viele Gründe, die eine Bahncard 25 deutlich attraktiver erscheinen ließen als die MFG. Die Fahrgemeinschaft mit unbekannten Mitfahrern geriet für eine Weile in Vergessenheit. Doch seit ich mehrmals im Monat auf einer Strecke pendele, auf der die Sparpreise schnell vergriffen sind und man den Anschluss zu oft verpasst, tauchte das Mitfahren plötzlich wieder als Alternative auf. Also probierte ich sie noch einmal aus und entdeckte dabei einen neuen Reiz. Ich fahre nun mit gesellschaftswissenschaftlichem Forschungsinteresse.

Ein schwarzer Mercedes hält vor mir auf dem Parkplatz. Ein Mitfünfziger mit Geschäftsmann-Attributen steigt aus und gibt sich als Mike zu erkennen. Mit ihm bin ich hier verabredet. Nicht nur ich, sondern auch ein junger Mann aus Mali fährt mit. Er wird von einem Freund begleitet, weil er selbst kein Deutsch spricht. Wir packen unser Gepäck in den Kofferraum, die beiden Freunde verabschieden sich, und los geht’s auf eine gemeinsame Fahrt durch Deutschland.

Mittlerweile habe ich in diesem Semester schon ca. 3.000 km innerhalb Deutschlands in Mitfahrgelegenheiten zurückgelegt. Und auf manchen Fahrten habe ich dabei mehr Unerwartetes über unsere Gesellschaft erfahren als in einigen meiner Soziologie- und Politikwissenschaftsseminare. Sieht man in den Beifahrern nämlich zufällig zusammengestellte Repräsentanten der Gesellschaft, dann sind die Fahrten quasi-empirische Studien zu sozialen Milieus, politischen Einstellungen, Generationenunterschieden und den unterschiedlichen Lebensumständen in Ost- und Westdeutschland.

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Während des Studiums verbringen Studierende den Großteil ihres Alltags in ihrer Uni-Blase. Man bewegt sich im akademischen Milieu und verbringt viel Zeit mit Gleichaltrigen, die oft aus ähnlichen Verhältnissen kommen, ähnliche Ansichten und ähnliche Zukunftsperspektiven haben. In Mitfahrgelegenheiten trifft man dagegen auf Menschen mit völlig anderen Hintergründen und Lebensmodellen. Menschen, die man sonst niemals treffen und wahrscheinlich auch nicht immer unbedingt kennenlernen wollen würde. Sie sind aber eben Teil der deutschen Gesellschaft und ihrer sozialen Phänomene, über die wir Sozialwissenschaftler in unserem Studium ja gerne mehr erfahren möchten. Und auf einer dreistündigen Fahrt hat man – wenn man es so nennen will – die Gelegenheit zu ausführlichen Interviews.

Auf den Fahrten habe ich Menschen getroffen, die seit Jahren jedes Wochenende zwischen Job und Familie quer durch Deutschland pendeln, weil sie in Sachsen keine Arbeit finden. Ich habe die Einwanderungsgeschichte der kasachischen Eltern eines Fahrers gehört, deren gelungene Integration sich nicht nur im teuren Wagen ihres Sohnes manifestierte. Und ich kann mir nach kontroversen politischen Diskussionen zwischen Fahrersitz und Rückbank besser vorstellen, was das für Leute sind, die die AfD wählen. (Und wie es ausgeht, wenn diese mit einem patriotischen Griechen auf dem Beifahrersitz die Euro-Krise diskutieren.)

Arbeitsmarkt, Familie, Migration und Integration, Parteipräferenzen und politische Einstellungen – klassische gesellschaftswissenschaftliche Themen. Man könnte auch sagen, die Erkenntnisse aus den Fahrten ergänzen die Theorie, die ich an der Uni lerne.

Wir sind am Zwischenziel angekommen. Wir Mitfahrer steigen hier aus. Unser Fahrer Mike hat noch zwei Stunden vor sich. Auf der Fahrt habe ich erfahren, dass auch er einer der Westpendler ist, der jedes Wochenende von Bonn nach Chemnitz zu seiner Frau fährt. Nachdem er seine Arbeit verloren hatte, ging es nicht mehr anders. Jetzt hofft er, dass er bald wieder eine Stelle in seiner Region findet, damit er seine Familie häufiger sieht als deutsche Autobahnen. Solange fährt er wöchentlich seine MFGs und hält den Mitfahrern Vorträge über die Themen, die ihn bewegen: Benzinpreise, Billigflüge und sein Navigationsgerät.

Der Mitfahrer aus Mali stellt sich als Flüchtling heraus. Auf Französisch erzählt er, dass er auf dem Weg zu seinem Bruder ist, der in einer Unterkunft in Thüringen lebt. Am nächsten Wochenende werde ich ihn auf dem Parkplatz am Bonner Bahnhof wiedertreffen und wir werden uns beide mit einem anderen Fahrer auf in Richtung Osten machen.

Natürlich weiß ich, dass nicht jede Erkenntnis gleich Wissenschaft ist und Forschung vielen Standards genügen muss. Die Gespräche während der Autofahrten sind nicht repräsentativ, da sich nur bestimmte Gruppen zu einer Fahrt mit Fremden entscheiden. Auch moralischen Forschungsstandards genügen meine »Interviews« nicht, denn die Probanden wissen ja nicht, dass sie Gegenstand meiner privaten Studien sind. Und natürlich sind auch viele Fahrten einfach langweilig – wenn man sich gar nicht unterhält oder bloß über das Wetter. Aber allen, die sich für unsere Gesellschaft interessieren, sie vielleicht sogar studieren und sich manchmal fragen, was das Studium mit der Realität zu tun hat, denen kann ich nur empfehlen, sich mit MFGs auf Reisen zu machen. Denn manchmal liegt die Einsicht nicht am Wegesrand, sondern auf der Autobahn.

 

Studieren in schwarz-weiß

UNI-ALLTAG IN DEN 50ERN  Heute belesene Rentnerin. Davor engagierte Lehrerin für Englisch und Geschichte. Und vor 60 Jahren war sie genau da, wo wir heute sind: Frau Lohmann. Warum nicht alles besser – und gar nicht so viel anders war.

VON ALINA SABRANSKY

Ohne Turmhelme – das Hauptgebäude Ende der 1950er Jahre (Foto: Unbekannt / Archiv der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität)

Ohne Turmhelme – das Hauptgebäude Ende der 1950er Jahre (Foto: Unbekannt / Archiv der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität)

Wen interessiert das denn?«, war Frau Lohmanns erste Reaktion, als ich ihr von meiner Idee erzählte, für die AKUT einen Artikel über ihre Zeit an der Uni zu schreiben. Ich aber machte mich freitags nachmittags trotzdem auf den Weg zu ihr nach Hause in Essen, vorbereitet mit einigen wenigen Stichpunkten, und auch noch ungewiss, in welche Richtung sich das Gespräch genau entwickeln würde. Ich wusste lediglich, dass sie auch hier in Bonn studiert hat, und zwar die gleichen Fächer wie ich, Germanistik und Anglistik. Wie sich allerdings gleich zu Beginn herausstellte, stimmte nur Ersteres. Von 1951 bis 1957 studierte sie zwar anfänglich Germanistik, jedoch gefiel ihr das Studium nicht allzu gut. Schon in den 50iger Jahren schienen Linguistik und Mediävistik, das Übersetzen und Lesen von Mittelhochdeutschen Texten, nicht gerade die beliebtesten Seminare unter den Studenten zu sein. Bis heute hat sich dieses Phänomen kaum gewandelt. Da belegte sie lieber Geschichte, Anglistik und Religionswissenschaften. Dazu noch Französisch und einige Kurse in Philosophie. »Wie, alles auf einmal?« hakte ich nach. »Ja, denn wie man seine Kurse richtig sortiert und wählt, hat einem damals keiner gezeigt. Ich habe einfach alles belegt, was mich interessierte und so stand ich an meinem ersten Unitag in einem riesen Haufen anderer Erstsemester vor dem schwarzen Brett und musste mir meine Seminare zusammen suchen. Ansprechpartner gab es keine und ich war heillos überfordert«, erzählte sie mir. Das Gefühl kann ich nachvollziehen! Ich fühlte mich am Anfang auch ziemlich orientierungslos, und das trotz, oder vielleicht auch wegen, BASIS.

Besonders gute Professoren hätte sie in Geschichte gehabt, erinnert sie sich weiter. Stephan Skalweit zum Beispiel lehrte Neuere Geschichte. Über ihn gibt es sogar einen Wikipedia-Artikel, genau wie über Gustav Mensching. »Er war der allererste Professor für vergleichende Religionswissenschaften in Bonn  und lehrte von 1936 bis 1972. Durch ihn wurde das Fach entschieden geprägt.« Bis heute ist sein Name den fachinternen Studenten ein Begriff, manchen allerdings auch aufgrund seiner mutmaßlichen NSDAP-Mitgliedschaft, wegen der  ihm kurz nach Kriegsende sein Lehrstuhl für zwei Jahre entzogen wurde. Überhaupt hatte der noch nicht allzu lang zurückliegende zweite Weltkrieg einige Auswirkungen auf das Unileben. Das Fach Anglistik wurde zu einem der begehrtesten Studienfächer, denn nach 1945 fiel Bonn unter die britische Besatzungszone, sodass sich besonders unter den jungen Leuten ein großes Interesse an der englischen Sprache entwickelte. »Muttersprachliche Dozenten gab es allerdings keine«, erzählte sie, » denn welcher Brite oder Amerikaner wollte schon freiwillig nach Deutschland«. Ich kann dazu nur sagen, dass bis heute die Zahl der von Geburt an Englisch sprechenden Dozenten und Professoren  höchstens minimal gestiegen ist. Im Jahre 2015, genau 70 Jahre nach Kriegsende, ist das ein ziemlich miserables Ergebnis. In Französisch gab es deutlich mehr Muttersprachler, da Frankreich politisch viel enger mit Deutschland verbunden war. Am prägnantesten in Erinnerung geblieben ist ihr ein Seminar über den französischen Schriftsteller François Rabelais. Ich musste ihn allerdings erst einmal googlen und habe dabei herausgefunden, dass die Uni Bonn mit einer gewissen Universität François Rabelais in der französischen Stadt Tours eine Erasmusbeziehung pflegt. Damals natürlich noch nicht, denn Auslandssemester waren erstens finanziell und zweitens politisch, man bedenke immer noch die Zeit, kaum möglich. Mich interessierte außerdem, wie Frau Lohmann sich als Frau unter den ganzen männlichen Kommilitonen gefühlt hat, denn ich ging davon aus, dass der Frauenanteil an den Universitäten in den 50igern bestimmt nicht allzu hoch ausfallen würde. »Unter all den Männern? Die waren doch fast alle tot«, antwortete sie darauf. Zwar gab es kaum Professorinnen, aber unter den Studierenden herrschte ein relativ ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. »Jura war natürlich schon damals eine Männerdomäne«!

Frau Lohmanns Studienbuch (Foto: Alina Sabransky / AKUT)

Frau Lohmanns Studienbuch (Foto: Alina Sabransky / AKUT)

Um den Krieg aber mal Krieg sein zu lassen, versuchte ich das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und erkundigte mich nach Studentenpartys. In der Form wie wir sie heute kennen, gab es sie jedoch kaum. »Außer in den Verbindungen. Die waren immer auf der Suche nach Mädchen für ihre Partys«, erinnerte sich Frau Lohmann. Generell war das Verhältnis der Studenten untereinander ein ganz anderes als wir es heute kennen. Feste Kontakte hatte Frau Lohmann nur etwa zehn, da es kaum Möglichkeiten und Stätten gab um sich zu treffen, außer in der Cafeteria im Unihauptgebäude, die wir heute als Café Unique kennen. Auch, dass sie und ihre Kommilitonen sich untereinander gesiezt haben, erstaunte mich sehr und kann ich mir in einer Zeit, in der selbst einige meiner Dozenten sich gerne duzen lassen wollen, kaum vorstellen. Aber die Bindungen, die sie damals in Bonn geknüpft hat, sind lange geblieben. Noch bis zu 40 oder 50 Jahre lang. Als ich nun erfahren hatte, wie die Beziehung unter den Studenten selbst war, wollte ich auch wissen, wie denn das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten aussah. »Es gab keines«, war ihre schlichte Antwort. Die Seminare wurden im trockenen Frontalunterricht durchgezogen, ohne irgendeine Form von Kursdiskussion und wenn man eine Frage hatte, musste man nach der Stunde schnell zum Professor eilen, da damals von Sprechstunden nicht allzu viel gehalten wurde. Durch basis und ecampus haben wir heute ja sogar in der unifreien Zeit die Möglichkeit, mit unseren Dozenten Kontakt aufzunehmen. Frau Lohmann findet, dass das Internet, zumindest in diesem Punkt, einige Vorteile und Erleichterungen für die Kommunikation birgt. An ein Erlebnis aus einem Geschichtsseminar erinnerte sie sich besonders lebhaft. Eine ihrer Kommilitoninnen befasste sich in ihrer Hausarbeit mit Bismarck, jedoch schrieb sie den ersten deutschen Reichskanzler durchweg mit »k« anstatt mit »ck«. Der Professor nahm es sich daraufhin zur Aufgabe, sie vor dem gesamten Kurs mehrere Minuten bloßzustellen und sie zu demütigen. Es sei generell nicht unüblich gewesen, Seminararbeiten vor allen anderen, anstatt in einem persönlichen Vier-Augen-Gespräch zu besprechen. Dass man heute sogar Dozenten duzen soll, findet sie zwar übertrieben, aber die Distanz sollte auch nicht zu groß sein. »Ein bisschen mehr menschliches Feingefühl von Seiten des Lehrpersonals hätte nicht geschadet«.

Mich interessierte noch, wie und wo sie damals gewohnt hat. Das Konzept von Wohngemeinschaften war noch nicht ausgereift und es war üblich, ein Zimmer bei einer Familie zu bewohnen. »Mein erstes Zimmer war in einer ganz kleinen Wohnung einer Familie, an die mein Vater  Geld für die Kohle zum Heizen zahlen musste. Bis auf ein Bett und einen winzigen Schreibtisch, stand dort nichts drin. Mein zweites Zimmer lag in der Rosenstraße, also ganz in Rheinnähe, ebenfalls bei einer Familie. Zum Glück aber diesmal außerhalb von deren Wohnung«, erzählte sie, denn sie fühlte sich immer verpflichtet, kein Angebot zum Kaffee oder einem Gespräch abzulehnen. Gegessen hat sie in der Mensa, denn die Küche durfte sie nicht mitbenutzen. Deren Konzept hat sich übrigens bis heute kaum geändert, wie wir beide belustigt festgestellt haben. Unten gab es »Blechnäpfe mit Suppen und Eintöpfen« für 1,5 DM und oben war es teurer, dafür aber um einiges besser.

Am Ende, nach fast zweieinhalb Stunden Gespräch und mehreren Tassen Tee, fragte mich Frau Lohmann noch, ob ich wüsste was ein Studienbuch sei. Ich verneinte und sie legte vor mir ein kleines, ziemlich gut erhaltenes Heftchen auf den Tisch. Das Studienbuch besteht aus einer Führung über ihr gesamtes Vorlesungsverzeichnis. Nach Ende eines jeden Semesters musste man sich beim Professor eine Unterschrift abholen, die die Teilnahme bestätigen sollte. Sogar Professor Menschings persönliche Signatur entdeckten wir beim Durchblättern. Außerdem war in der rechten Spalte fein säuberlich der Preis für die jeweilige Vorlesung eingetragen, der meistens um die 10 DM betrug.

Kurz bevor ich gehen will, bemerkte Frau Lohmann dann noch einmal, dass das ja wirklich keiner lesen wolle. Das muss sie aber dann doch mir überlassen, fand ich und bedankte mich für das sehr interessante Gespräch.