Die Eiserne Sprache der Wissenschaft

Gedanken zur Sehnsucht nach Poesie

In einem der schönen Vororte von Tunis besuchte ich eine Grundschule. El-Farabi-Grundschule, ein Gebäude mit einer Weißen Mauer und blau verzierten Fenstern und Türen. An meinem ersten Schultag in El-Farabi konnte mich mein Vater nicht mehr begleiten. In der Schule waren wir die Kinder, von deren Vater niemand was wusste. Man traute sich nicht zu fragen. Man sprach nicht darüber.

In der fünften Klasse kam ein neuer Lehrer zu uns. Sidi el Bachir, sein freundliches Gesicht, sein an den Schläfen ergrautes Haar und sein mildes Lächeln hatten etwas Väterliches. An das Gesicht meines Vaters, der schon so lange fort war, konnte ich mich nicht mehr erinnern, so malte ich ihm in meiner Phantasie eine Gestalt, die der glich von Sidi el Bachir.

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„Eine Feder, die sanft über die Saiten unseres Gefühls streicht und eine schöne Melodie erklingen lässt.“
Foto: fab

Freitagsnachmittags stand Textproduktion auf dem Stundenplan. Diesmal lautete die Aufgabenstellung: Schreibe einen Brief an eine abwesende Person, in dem du ihr zum Fest gratulierst, ihr deine Sehnsucht beschreibst und ihr von dem Fest erzählst. Ich schrieb. Über das einsame Fest, über die Ferne, meine Trauer, meine Sehnsucht. Ich schrieb meinem Vater.

Montags bekamen wir unsere Aufsätze zurück. Er sagte: „in meiner 20-jährigen Lehrtätigkeit habe ich einem Aufsatz noch nie die volle Punktzahl vergeben. Heute aber habe ich es getan, eure Mitschülerin Hiba hat es sich heute verdient“. Von diesem Tag an nannte er mich stolz „Adiba“ die Literatin, eine Beschreibung, die sich zufällig auf meinen Namen reimte. Er bat mich, meinen Aufsatz der Klasse vorzulesen. Ich tat dies und las meinen Brief mit einer zittrigen Stimme, die Tränen und Schluchzer verbarg. Die Klasse applaudierte.

Was Sidi el Bachir nicht wusste, ist, dass der Brief, den er mit seinem roten Füller korrigiert hatte, echt war. Es war ein Brief von mir an meinen Vater. Manchmal, wenn wir über gewisse Dinge schreiben, ist es nicht mehr unsere unsichere Hand, die schreibt. Unsere Empfindungen ergreifen entschlossen den Stift, sie gleichen dann einer Feder, die sanft über die Saiten unseres Gefühls streicht und eine schöne Melodie erklingen lässt. Eine Melodie der Sehnsucht. Eine Melodie der Wehmut und der Trauer.

Wenn uns die Erhabenheit des Gefühls erdrückt, dann schreiben wir. Wir zaudern nicht. Wir suchen nicht nach schöneren Formulierungen, streichen nicht einen angefangenen Satz durch, um ihn neu zu beginnen. Wir schreiben, ohne daran zu denken, schön zu schreiben. Die Aufrichtigkeit unseres Gefühls genügt. Und mit einem Mal verschwindet die Unsicherheit, die uns so manches Mal das Schreiben bereitet.

Später erfuhr Sidi el Bachir von unserer Geschichte. Er erfuhr von meinem Vater, der geflüchtet war aus einer Heimat, in der er für seine politischen Ansichten verfolgt, eingesperrt, gefoltert wurde und diese schließlich verlassen musste und eine Tochter zurückließ, die seinen Namen trägt, aber sein Gesicht nicht kennt.

Dann kam der Tag, an dem wir nun in dieses ferne, fremde Land reisen wollten, in das sich mein Vater einst geflüchtet hatte. Wir nahmen Abschied. Von Nachbarn , Freunden, Verwandten und Schulkameraden, von unserem Zuhause, unserem Garten, dem Schulhof.
In naiver Leichtfertigkeit verabschiedeten wir uns von allem und doch ahnten wir nicht, dass dies ein Abschied für eine ganz lange Zeit sein würde.

Ich verabschiedete mich von Sidi el Bachir und erzählte ihm, dass ich nun nach Deutschland gehen werde, zu meinem Vater. Er lächelte mild, und doch vermochte sein väterliches Lächeln seine Trauer nicht zu verbergen. Ahnte er etwa schon, dass dies eine endlose Reise sein würde. Eine Reise, auf der das Gefühl für eine Heimat auf ewig verloren gehen wird. Ahnte er, dass dies eine unermüdliche Suche sein wird nach neuen Wurzeln, ein ewiger Versuch, die Splitter meines Seins aufzusammeln und mich neu zu ordnen. Übrigens bedeutet Sidi Meister und El Bachir bedeutet Verkünder einer Botschaft.

In der Tat Sidi el Bachir. Es war eine langjährige Zerrissenheit, die sich auch dann nicht legte, als ich nach 15 Jahren Abwesenheit wieder an diesen Ort zurückkehrte. Vergebens suchend nach dem alten Gefühl der Vertraulichkeit, das mir dieser Ort einst bereitete. Ich besuchte alte Freunde und Verwandte viele erkannte ich nicht mehr. Andere wiederum hatten mich vergessen. Erinnerungen und Gesichter verschwanden im Abgrund der Vergessenheit.

Ich bestand darauf, Sidi El Bachir zu besuchen. Ich ging viele Irrwege, bis ich zu seinem Haus fand. Die Straßen waren mir fremd geworden, ich war ihnen fremd geworden. Unsicher, ob es das richtige Haus war, blieb ich vor einem grünen Tor stehen und klingelte. Die Angst vor der Vergessenheit erfüllte mich.

Ein gebrechlicher Mann mit grauem Haar und einem freundlichen väterlichen Gesicht öffnete. Er stand in der Tür, lächelte mild und fragte „Hiba?“ Ich weinte. Aus Erleichterung, aus Freude, aus Wehmut über all die Jahre, in denen ich fort war. Er versuchte seine Tränen zu verbergen und mit seiner zittrigen Stimme überhäufte er mich mit Fragen. Er erkundigte sich nach meinem Befinden, nach meiner Familie, nach meinem Vater. Er fragte, wie es mir dort in der Ferne ergangen ist, warum ich all die Jahre fort war, warum ich ihn in all den Jahren nicht besucht habe. Er erkundigte sich nach meinen schulischen Leistungen und ob ich noch immer die leidenschaftliche „Adiba“ bin, die er einst in mir gesehen hatte.

Ich lächelte und erwiderte, dass ich nun in der Tat Literatur studiere. Seine Augen, in denen noch immer eine Träne zitterte schauten mich mit Stolz an und ich dachte an jenen Tag, an dem er mit demselben stolzen Blick meinen Aufsatz lobte. In diesem Augenblick war es völlig gleichgültig, dass er, der er mein Lehrer war und mir einst zu Schreiben lehrte, nun nicht mehr in der Lage sein wird, die Texte die ich schrieb mit seinem roten Füller zu korrigieren. Denn ich schrieb nun in einer anderen fremden Sprache. Eine Sprache, die für Sidi el Bachir genauso fern ist, wie das Land, an das ich damals meine kindlichen sehnsüchtigen Briefe adressierte.

Ich erzählte Sidi el Bachir nicht, dass ich nicht mehr die gute Schülerin bin, die ich einst war. Ich verheimlichte ihm, dass mir die Leidenschaft des Schreibens zuweilen entglitten ist und dass es Momente gibt, in denen sich mir die eisernen Tore der Sprache verschließen, meine Feder erstarrt und mein Gefühl verstummt. Ich erzählte ihm nicht, dass ich im Studium keine wehmütigen Briefe mehr schreiben kann, wie ich es einst in seinem Unterricht tat. Ich erzählte ihm nicht dass meine Professoren mir die unmögliche Aufgabe stellen, wissenschaftlich zu schreiben, dass sie von mir verlangen, mich jeglichen Gefühls zu entledigen, denn so ist sie, die Wissenschaftssprache, starr und kalt. Sie verbannt jegliche Regung des Empfindens, jegliches Flüstern des Gefühls. Wie aber soll ich schreiben, wenn man mir die Feder verbietet, die mein einziges Instrument ist?

Meine Feder soll nun aber schweigen zu Gunsten der eisernen Wissenschaftssprache. Und wenn ich nun schreibe, dann einzig im schrillen eintönigen Klang der Wissenschaft.
Alles das erzählte ich Sidi el Bachir nicht, wir sprachen noch lange. Es dämmerte. Dann ertönte der hallende Klang des Gebetsrufers. Wir verabschiedeten uns, ich versprach ihn zu besuchen. Er eilte in die Moschee. Ich sah, wie er, sich auf eine Gehhilfe stützend, in einer Seitenstraße verschwand. Sein Gang hatte sich verändert.

Zeichnung: Valerie Esch

Zeichnung: Valerie Esch

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