Hinter den Kulissen

Studierende und ihre Arbeit im Wahlausschuss – Vom 19. bis zum 22. Januar können 33.636 wahlberechtigte Studentinnen und Studenten ihre Stimme für die Zusammensetzung des neuen Studierendenparlaments abgeben. Damit alles reibungslos abläuft, gibt es den Wahlausschuss. Aber wer gehört überhaupt dazu und welche Aufgaben hat er?

Von Maike Walbroel

Für die Mitglieder des Wahlausschusses beginnt die Arbeit lange vor dem eigentlichen Wahltermin. Sie veröffentlichen die Wahlausschreibung, lassen die Hochschulgruppen und ihre Kandidierenden zur Wahl zu und geben die offizielle Wahlzeitung heraus. Der gesamte Ablauf richtet sich dabei nach der Wahlordnung. In ihr sind die einzelnen Schritte genau festgehalten. „Die Wahlordnung schreibt in fast allen Punkten vor, was zu tun ist. Wir kontrollieren, ob alle diese Regelungen eingehalten werden“, erklärt Fabian Rump, Informatik-Student und Mitglied des Wahlausschusses. Bei Versäumnissen kann es dazu kommen, dass eine Hochschulgruppe beispielsweise nicht zur Wahl zugelassen wird – wie es dieses Jahr im Fall von ghg-campus:grün passiert ist.
Alle Hochschulgruppen und Kandidierenden, die zur Wahl zugelassen wurden, stellen sich und ihre Ziele in der Wahlzeitung vor. Auf den ersten Seiten informieren die Redakteurinnen und Redakteure des Wahlausschusses rund um die Wahl. Sie erklären, wer überhaupt wählen darf, wer gewählt wird, und wie sich die Gremien der Universität zusammensetzen.
Die Informationspolitik ist damit ein wichtiger Schwerpunkt für die Arbeit des Ausschusses. Natürlich werden dafür auch moderne Kanäle genutzt. „Ich kümmere mich hauptsächlich um die technische Infrastruktur“, erzählt Fabian. „Davon gibt es eine ganze Menge: Computer für die Büroarbeit, unsere Website und Accounts in sozialen Netzwerken.“ Kurz vor der Wahl, wenn alle zu wählenden Gruppen feststehen und die Mitglieder des Ausschusses deren Inhalte abgedruckt bzw. gepostet haben, findet das öffentliche Treffen der Spitzenkandidaten statt. Die Organisation der sogenannten Elefantenrunde gehörte in diesem Jahr zu den Aufgaben von Lukas Behrenbeck. Er studiert Politik und Gesellschaft und ist in diesem Jahr zum ersten Mal dabei: „Im Wahlausschuss bin ich vor allem aus Interesse – ich wollte gerne einmal hinter die Kulissen der Wahl blicken.“
Bei freiwilligen Helferinnen und Helfern für eine Wahl denkt man meist zuerst an „Wahlhelfer“. Die zehn Studierenden, die dem Wahlausschuss angehören, kümmern sich zwar um den organisatorischen Vorlauf, doch selbst an der Urne sitzen sie nicht.
„Wir bilden die Wahlhelfer aus und sorgen dafür, dass überall auf dem Campus genug Wahlurnen stehen“, berichtet Lukas. „Auch während der Wahl betreuen wir die Wahlhelferinnen und -helfer und kontrollieren, ob alle Vorschriften eingehalten werden. Bei der Stimmauszählung helfen wir dann mit.“
Die Mitglieder des Wahlausschusses treffen sich vor der Wahl regelmäßig, um die verschiedenen Aufgaben zu verteilen. Ehrenamtlich arbeiten sie nicht, denn dem Ausschuss steht eine vierstellige Summe zur Verfügung, die dem jeweiligen Arbeitsaufwand entsprechend zwischen allen aufgeteilt wird. Um einen lukrativen Nebenjob handelt es sich dennoch nicht. Fabian betont: „Die Entlohnung ist kein Gehalt, sondern nur eine Aufwandsentschädigung für unsere Arbeit.“
Ob sich das Engagement des Wahlausschusses gelohnt hat, zeigt sich dann spätestens bei der Stimmauszählung. Lukas hofft, dass die kreative Wahlzeitung das Interesse möglichst vieler Studierender geweckt hat und so möglichst viele zur Stimmabgabe mobilisiert.
Angesichts der seit 2010 kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung von 20,9% auf nur noch 13,2% im letzten Jahr bleibt zu hoffen, dass sich dieser Negativtrend nicht fortsetzt. Fabian appelliert daher an alle Stimmberechtigten: „Geht wählen! Viele Studierende haben mir gesagt, dass sie mit der Hochschulpolitik nichts zu tun haben. Das stimmt aber nicht. Spätestens bei Themen wie Semesterticket, Bologna-Prozess oder Studentischem Wohnen sind wir alle betroffen. Aber auch die Hochschulgruppen müssen sich verbessern: Sie sollten sich bemühen, diese wichtigen Themen den Studierenden gegenüber richtig zu vermitteln!“ Lukas ergänzt: „Ihr könnt die Urnen nicht übersehen, und ihr habt eine Woche lang Zeit.“ 

Kunst = Freiheit = Toleranz

Skandale gab es schon immer in der Kunstwelt. Von Hochrenaissance bis in die moderne Popkultur, von Albrecht Dürer bis Heidi Klum. Die Ausstellung „Skandal“ der Ausstellungsgruppe Bonn zeigt ein Thema, das immer aktuell sein wird.

Von Jana Kipsieker & Kati Engelmann

SK WEB

„Ich stimme nicht mit dem überein, was du sagst, aber ich werde dein Recht, es zu sagen, bis in den Tod verteidigen“
— Voltaire (1694–1778)
Es ist tragisch, dass der verheerende Angriff fundamentaler Islamisten in Paris auf die Satirezeitschrift Charlie Hedbo und einen jüdischen Supermarkt, bei dem insgesamt 17 Menschen ihr Leben verloren, mit der Eröffnung der neuen Ausstellung „Skandal – Ausgewählte Kontroversen in der Kunst“ im Paul Clemen Museum der Universität Bonn kollidiert.
Karikaturen als Form des künstlerischen Ausdrucks, der mit Humor und Ironie gesellschaftlich relevante Inhalte thematisiert und kommentiert, sind unabänderlich Teil der Presse- und Meinungsfreiheit innerhalb des demokratisch säkularen Systems.
Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison (*1931) sagte einmal: „All good art is political.“ Künstler und ihre Kunstwerke halten der Gesellschaft mitunter radikal und provokativ den Spiegel vor, sie werden daher nicht selten als Störfaktoren wahrgenommen (Martin Kippenberger) und ihnen wird mit Zensur (Gustave Courbet) oder Gewalt (Ai WeiWei) gedroht. Potentaten fürchten seit jeher die Macht der Kunst, da sie entscheidenden Einfluss auf den Wandel des Zeitgeistes nehmen kann, wenn sie von der Gesellschaft kritisch hinterfragt und gedeutet wird. Die Wichtigkeit dieses Diskurses zeigt uns ein Blick in die Kunstgeschichte! Die Ausstellungsgruppe Bonn, eine studentische Initiative junger Kunsthistoriker, zeigt in ihrer neusten Schau einen Schnitt 500 Jahre Skandalgeschichte.
Blickt man in die aktuelle Ausgabe des Klatschmagazins „OK!“ so erfährt man, dass der größte Skandal des Jahres 2014 ein „Nipplegate“ Heidi Klums gewesen sein soll, mit dem sie ihren intellektuellen eventuell Bald-Schwiegervater Julian Schnabel verärgerte.Wie mögen die Schlagzeilen 1507 geheißen haben, als Albrecht Dürer erstmals seine „Nackete“ überlebensgroß dem Publikum präsentierte? Oder in welchem Zusammenhang lässt sich die homosexuelle Selbstinszenierung  ala „It’s coming (…) from the ashes of the gay: Democracy is coming to the U.S.A“ eines Robert Mapplethorpe, 1978, hinsichtlich der Entwicklung demokratischer Grundrechte in den Vereinigten Staaten deuten? Die historische Perspektive der Ausstellung reicht bis in die Aktualität unserer Zeit mit dem Attentat auf die französischen Zeichner von Charlie Hebdo sowie die Unterdrückung von Künstlern in der Türkei. Sie zeigt, dass es der Kunst mitunter leichter fällt, gesellschaftlichen Wandel zu forcieren als dem gesellschaftlichen und politischen Führungspersonal. Es lebe die freie Kunst! Es kann daher nur lauten: Nous sommes Charlie!

Sackgasse Islamwissenschaft?

Bonner Studierende enttäuscht über Studienorganisation – Der Bachelor- Studiengang „Islamwissenschaft“ soll seine Absolventen zu Kennern des Nahen Ostens ausbilden. Durch einen Passus in der Prüfungsordnung können sie jetzt aber gar nicht für den Master zugelassen werden. Studierende machen ihr Institut dafür verantwortlich. Der Abteilungsleiter der Islamwissenschaft sieht das Problem hingegen in der Bologna-Reform.

Von Sophie Leins

ISLM WEB

Ich fühle mich getäuscht und bin enttäuscht – und das von meiner Alma Mater!“ erklärt Christina Baetzel in einer Lernpause in der ULB.  Gerade bereitet sich die Bachelorstudentin, die im fünften Semester den Zwei-Fach-Bachelor „Islamwissenschaft/Nahostsprachen“ studiert, auf ihre letzte Klausur vor. Im sechsten Semester folgt nur noch die Abschlussarbeit, danach sollte der Master folgen – am selben Institut, dem Institut für Orient- und Asienwissenschaften (IOA). Doch vor einigen Wochen hat Christina aus Zufall erfahren, dass aus diesem Plan nichts werden wird. Denn ihr Bachelor-Abschluss qualifiziert sie dafür nicht.
Doch wo liegt überhaupt das Problem? Wie kann es sein, dass die Uni einen Bachelor anbietet, der nicht für den aufbauenden Master am selben Institut qualifiziert? Und wieso hat die Studentin davon erst inmitten ihres Studiums erfahren?
Der Master setzt voraus, was man im Bachelor nicht einmal freiwillig erreichen kann

Die Fakten: Im Wintersemester 2012/2013 wurden an der Universität Bonn Zwei-Fach-Bachelor-Studiengänge eingeführt. Das Konzept erlaubt es, zwei Fächer der Philosophischen Fakultät im gleichen Verhältnis zueinander zu studieren. In beiden Fächern belegen die Studierenden 78 ECTS-Punkte, dazu kommt die Bachelor-Arbeit. Das macht zusammen 180 Punkte.Die Prüfungsordnung der Philosophischen Fakultät der Uni Bonn setzt für den Masterstudiengang „Asienwissenschaften“ mit dem Schwerpunkt Islamwissenschaft eine Sprachpraxis in Arabisch oder Persisch im Umfang von mindestens 72 Punkten voraus. Alternativ kann eine Mischung aus beiden Sprachen als Zugangsvoraussetzung anerkannt werden. De facto sind durch den Zwei-Fach-Studiengang aber beide Optionen nicht erreichbar, da im Studienverlaufsplan nur drei Basismodule in einer Fremdsprache (insgesamt 36 ECTS-Punkte) vorgesehen sind.
„Die Informationspolitik des Institus war eine Katastrophe“

Mehr als eine Nahost-Sprache zu lernen, ist ebenso nicht vorgesehen, auch wenn der Plural im Namen des Studiengangs diesen Eindruck vermittelt. Wie die akut bereits in der Ausgabe Nr. 334 berichtete, ist es aufgrund der geringen Sprachkursplätze für Studierende des Zwei-Fach-Studiengangs nicht garantiert, überhaupt einen Platz im Arabisch-Kurs zu bekommen.
Lange Rede, absurder Sinn: Der Zwei-Fach-Bachelor „Islamwissenschaft/Nahostsprachen“ qualifiziert zwar für den Master „Asienwissenschaften“, jedoch nur für die Schwerpunkte „Kunstgeschichte“, „Religionswissenschaft Südostasien“ und „Religionswissenschaft“, hingegen nicht für den aufbauenden Schwerpunkt „Islamwissenschaft“. Wegen mangelnder Sprachkenntnisse qualifiziert er seine Absolventen außerdem auch für fast keinen islamwissenschaftlichen Master anderer Universitäten. Eine Kommilitonin von Christina im dritten Semester hatte schon ein Drittel ihres Bachelors absolviert, als ihr klar wurde, dass sie sich mit dem Weg, den sie eingeschlagen hatte, in einer Sackgasse befand, da sie keinen Zutritt zu den Vertiefungsmodulen in den islamwissenschaftlich relevanten Fremdsprachen bekommen würde. Nach mehreren Beratungsgesprächen entschied sie sich dazu, das Zwei-Fach-Modell aufzugeben. „Ich kann nun inoffiziell an den Kernfach-Veranstaltungen teilnehmen und mich im Sommersemester dann offiziell ins Kernfach umschreiben lassen.“ Für die Fünftsemesterin Christina kam diese Möglichkeit zu spät. Sie überlegt nun, ob sie überhaupt einen Master machen soll.
Beide fühlen sich vom Institut nicht ausreichend informiert. „Die Informationen des IOA waren eine einzige Katastrophe. Der ins Internet eingestellte Studienverlaufsplan für den 2-Fach-B.A. „Islamwissenschaft“ war fehlerhaft, sodass sämtliche Kommilitonen und ich eine böse Überraschung erlebten“, erklärt die Studentin, die lieber anonym bleiben will. „Das Institut hat ganz klar hinsichtlich seiner Beratungs- und Informationspolitik versagt.“
Fehlkommunikation zwischen Institut und Prüfungsamt

Professor Dr. Stephan Conermann, Leiter der Abteilung für Islamwissenschaft am IOA, findet die ganze Situation genau so absurd wie die betroffenen Studierenden. „Natürlich macht es grundsätzlich keinen Sinn, einen Zwei-Fach-B.A. anzubieten, für den es keinen passenden Master gibt“ gibt er zu. Doch wie konnte es dann dazu kommen? Durch Fehlkommunikation zwischen seiner Abteilung und dem Prüfungsamt der Philosophischen Fakultät, erklärt Conermann. Erstere bekam bei der Einführung der Bologna-Reform den Auftrag, einen abgespeckten Bachelor-Studiengang für das Zwei-Fach-Modell zu konzipieren. Der erste Entwurf hätte zwar für den Master qualifiziert, bestand jedoch ausschließlich aus Sprachmodulen. Dieser Vorschlag wurde vom Prüfungsamt nicht akzeptiert. Mindestens die Hälfte des Curriculums sollte aus inhaltlichen Modulen zu Religion, Geschichte und Gesellschaft des Nahen Ostens bestehen. So wurde es dann gemacht und in die Prüfungsordnung gepackt. Nur fiel dabei niemandem auf, dass das Ergebnis nicht mehr ausreichte, um die Studierenden für den Master-Studiengang zu qualifizieren.
Dabei gäbe es nach Ansicht Conermanns eine praktische Lösung: Die Studierenden könnten die nötigen Sprachkursmodule freiwillig und über ihr reguläres Curriculum hinaus abschließen. Die entsprechenden Dozierenden könnten ihnen dafür wie früher einen „Schein“ ausstellen und das Prüfungsamt diesen dann anerkennen. Doch „vollkommen vernünftige Lösungen“ seien wegen einer „durch den Bologna-Prozess verursachten systemischen Sklaverei“ nicht möglich. Freiwillige Leistungen, die über die obligatorischen 180 Leistungspunkte hinausgehen, können im Transcript of Records nicht festgehalten werden. Conermann findet es unglaublich, „dass es engagierten Studierenden verboten wird, freiwillige Leistungen zu dokumentieren“. Betroffenen empfiehlt er, die Kurse trotzdem zu belegen, sich zusammen zu tun und mit Hilfe der Fachschaft eine „selbstorganisierte, sachliche Auseinandersetzung mit dem Prüfungsamt“ anzustreben.
„Durch den Bologna-Prozess verursachte systemische Sklaverei“

Die andere Möglichkeit, das Problem zu beheben – durch einen Antrag auf Änderung der Master-Prüfungsordnung durch das Institut – hält er für wenig realistisch. Die nächste und auch vorerst letzte Möglichkeit hierfür wäre das Sommersemester 2015, doch am Institut selbst sei nach wie vor umstritten, ob die Anforderungen für den Master gesenkt werden sollten. Allerdings überarbeitet das IOA für die nächste Reakkreditierung im Jahre 2018 zurzeit das gesamte Studienangebot grundlegend. Die Tendenz geht zu 2-Fach-Bachelorprogrammen für alle Disziplinen, die dann selbstverständlich für einen Master in dem jeweiligen Fach qualifizieren. Eine Lösung, die für aktuelle Studierende natürlich zu spät kommt.
Zum Abschied versucht Prof. Dr. Conermann noch einmal zu erklären, wie es so weit kommen konnte. Der Bologna-Prozess sei für alle Beteiligten eine völlig neue Herausforderung gewesen und man befinde sich noch immer in einer Übergangsphase. „Uns wurde etwas vorgegeben, wir sollten uns dann etwas ausdenken. Nicht nur die Studierenden, auch meine Kollegen und ich fühlen uns seit acht Jahren ein wenig wie Versuchskaninchen.“¬

„Der Umgang mit Büchern führt in den Wahnsinn“

Prof. Dr. Radvan über Bücher, das Lesen und den besten Kaffee – Florian Radvan ist seit 2014 Professor für Fachdidaktik Deutsch an der Uni Bonn. Vor seiner Arbeit an der Uni, war er auch als Lehrer tätig. Die akut spricht mit ihm über die jeweiligen Vorteile von der Arbeit an Schule und Uni, guten Kaffee (oder Tee?) und die Gefahren des Lesens.

Interview: Hannah Rapp

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akut  Wenn die Uni noch ein Kurfürstliches Schloss wäre, welche Position hätten Sie dort am liebsten inne?
Radvan  Auch im Kurfürstlichen Schloss wird es eine Art Hausverwaltung gegeben haben, jemanden, der mit dem Herrschaftsinstrument Schlüsselbund ausgestattet ist. Was mich daran interessiert hätte, wäre natürlich der Blick hinter die Kulissen des Gebäudes gewesen, das Wissen um die Verliese im Keller und die Verstecke auf dem Dachboden, um Tapetentüren und geheime Gänge. In großen, auf Repräsentanz angelegten Gebäuden wie dem Schloss, gibt es ja zumeist eine zweite Welt, zu der man für gewöhnlich keinen Zutritt hat, die der ersten Welt des Sicht- und Begehbaren aber auch etwas Kulissenhaftes verleiht.

akut  Wo gibt es in Uninähe den besten Kaffee?
Radvan  Schon während meiner Schulzeit und später auch zum Studium habe ich einige Jahre in England verbracht – bin also eher als Teetrinker sozialisiert und habe die dortigen Marotten des Teetrinkens lieb gewonnen: So wurde aus mir ein Anhänger des Prinzips ‚Mif‘ (steht für „milk in first“), das in Konkurrenz zu ‚Tif‘ (also „tea in first“) steht. Ich bin also kein Kaffee-Experte, obwohl ich gern zum Arbeiten ins Café gehe. Wenn es in Bonn zwischendurch ein Kaffee sein muss, dann allerdings eher an einem Ort, wo man nicht (oder nur bei gutem Wetter) arbeiten kann: zum Kaffee-Roller.

akut  Was ist besonders toll an der Uni Bonn? Gibt es etwas, das Sie gerne verändern würden?
Radvan  Toll ist natürlich, dass die Universität sich entschlossen hat, das Lehramtsstudium wieder einzuführen! Am Aufbau der Fachdidaktiken beteiligt zu sein, mit dem Zentrum für schulpraktische Lehrerbildung (ZfsL Bonn) bei der Planung des ersten Praxissemesters zu kooperieren und überhaupt Einfluss auf die Curricula zu haben, ist eines der großen Privilegien meiner Tätigkeit. Die Veränderungswünsche liegen momentan eher im Bereich der Fachdidaktik: Unsere Lehrwerks-Sammlung möchte ich weiter ausbauen, gern mit Unterrichtsmaterialien aus der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre. Darüber hinaus habe ich mir vorgenommen, eine Ringvorlesung für Fachdidaktik einzurichten und, perspektivisch, auch ein Forschungskolloquium für Deutschdidaktik, etwa wenn es hier die ersten Absolventen unserer Lehramtsstudiengänge gibt.

akut  „Digitales Schreiben im Deutschunterricht“ ist der Titel eines Vortrages, den Sie gehalten haben. Wie sehr verändern die Neuen Medien den Deutschunterricht – positiv und negativ?
Radvan  Auf eine einfache Formel von besser oder schlechter lässt sich der Einsatz neuer Medien, etwa des Computers, nicht bringen. Eine aktuelle Studie zur Kompetenz von Schülerinnen und Schülern im Bereich der Digitalität besagt, dass die Bundesrepublik bestenfalls Mittelmaß ist. Das hat natürlich viele Gründe: Die IT-Ausstattung an vielen Schulen, fehlende oder nicht konsequent angewendete Unterrichtskonzepte, vielleicht auch eine zu lange Zögerlichkeit in der Fachdidaktik, sich mit computerbasiertem Lernen zu beschäftigen. In Bonn untersuchen wir im Augenblick, welches Fähigkeitsselbstkonzept, d.h. welche persönliche Wahrnehmung Schülerinnen und Schüler in Bezug auf das digitale Schreiben haben. Dabei zeigt sich, dass etwa Neuntklässler ihre Schreibkompetenz als durchweg besser einschätzen, wenn sie mit dem Computer oder auf einem iPad arbeiten – eine Einschätzung, die nicht unbedingt mit den realen Kompetenzen übereinstimmt. Gewinnbringende Möglichkeiten, den Computer im Deutschunterricht einzusetzen, sehe ich etwa bei der Überarbeitung von Texten. Interessant ist auch die Frage, wie sich die Akzeptanz des Computers bei Leistungsüberprüfungen ändern wird. Sprich: Sollten Klassenarbeiten in Zukunft auf dem Notebook geschrieben werden?

akut  Was ist der Vorteil der Arbeit an der Universität? Was vermissen Sie an der Arbeit als Lehrer?
Radvan  Sicherlich bietet mir die Universität die Möglichkeit, mich über längere Zeit und auch theoretisch mit Fragen zu beschäftigen, die mich als Lehrer praktisch betrafen: der Prozess des Schreibenlernens etwa oder der Umgang mit Texteditionen.
Auf der anderen Seite vermisse ich – ganz klar – die Aufgaben, die man als Klassenlehrer hat. Dabei handelt es sich ja um Aufgaben, die sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen beziehen, sondern primär kommunikative sind: das Herstellen eines guten Klassenklimas und die Bewältigung sozialer Probleme, auch in Zusammenarbeit mit Eltern, etwa bei klassischen Erziehungsfragen.
Häufig ist im Schulalltag eben, zumindest mehr als an der Uni, das Improvisationstalent und eine gute Portion Krisenmanagement gefragt. Dass Schülerinnen und Schüler weniger reserviert, recht unmittelbar in ihrem Verhalten, häufig auch sehr diskussionsfreudig sind, hat mich jedenfalls an der Schule fasziniert.

akut  Welches sind die größten Veränderungen in der Deutschdidaktik?
Radvan  Eine deutliche Veränderung hat sich vor zehn bis 15 Jahren ergeben, seitdem ist die Deutschdidaktik nicht nur, aber zunehmend eine empirische Wissenschaft. Für das Fach ist es natürlich zentral, so einen Anschluss an die Forschungsmethodiken der Sozialwissenschaften, der Erziehungswissenschaften oder der Psychologie zu gewinnen. Dennoch hatte dieser ‚empirical turn‘ – und ich vermute, nicht nur für mich – zunächst seine Tücken, da ich weder als Student noch als Lehrer mit Methoden zur Datenerfassung und -auswertung jemals in Berührung gekommen war. Sich mit Statistik in Form von Korrelationskoeffizienten oder Faktorenanalysen auseinanderzusetzen, ist eben keine Aufgabe für einen Feierabend.

akut  Was war Ihre persönliche Lieblingslektüre im Deutschunterricht?
Radvan  Mit dem Begriff Lieblingslektüre tue ich mich schwer, weil er irgendwie impliziert, dass man diese Bücher wieder und wieder liest. Das habe ich in der Schule definitiv nicht getan! Mein persönliches Erweckungserlebnis waren Theatertexte von Bertolt Brecht und zwar nicht unbedingt die, die man als kanonisiert bezeichnen würde. Wir hatten in der Oberstufe eine Deutschlehrerin, die mit uns eine ganze Reihe der kürzeren, zum Teil auch fragmentarisch gebliebenen Stücke Brechts wie „Das wirkliche Leben des Jakob Geherda“ oder „Die Hochzeit“ gelesen hat. Wir haben damit, was in den späten 1980er Jahren noch exotisch war, auch szenisch gearbeitet. Mindestens ebenso haben mich die Gedichte von Brecht begeistert, der als Lyriker in der Schule, denke ich, leider vernachlässigt wird.

akut  Finden Sie im Moment Zeit zu lesen? Was ist Ihr Lieblingsbuch von 2014 und warum?
Radvan  Ja, zum Lesen nehme ich mir immer Zeit! Während der Weihnachtsferien zum Beispiel ein Buch von Ulrich Raulff, dem Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach: „Erinnerung an die Siebziger“. Es hat den Untertitel „Die wilden Jahre des Lesens“ und schildert, was Raulff als Student in Marburg, Paris und London erlebte. In Frankreich begegnet er den später auch in Deutschland so einflussreichen Philosophen und (Literatur-)Theoretikern wie Foucault oder Roland Barthes. Besonders fasziniert hat mich der Abschnitt über die Bibliothek als Biotop, vielleicht weil uns die Tradition des beinahe zwanghaften Gangs in diese Welt der Bücher und das exzessive Lesen dort gerade verloren gehen. Ganz zu Beginn des Jahres 2014 las ich übrigens (leider viel zu spät) ein Buch von Pierre Bayard, das ein Freund mir zu Beginn meiner Tätigkeit in Bonn geschenkt hatte: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“.

akut  Was wollen Sie den Studierenden bzw. den akut-Leserinnen und Lesern noch mit auf den Weg geben?
Radvan  Der Umgang mit Büchern führt zum Wahnsinn. Das hat Erasmus von Rotterdam gesagt und – ganz falsch ist es sicherlich nicht!

Someone’s watching you!

Voyeurist bespannt Toilettenbesucherinnen im Uni Hauptgebäude – Zwischenfälle in den Toiletten des Uni-Hauptgebäudes halten Univerwaltung und Campus Security in Atem. Zwei Mitglieder der Redakion haben sich mit den Vorfällen beschäftigt.

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Von Florian Eßer
Wahl- und Toilettenkabinen sind beides Orte, an denen man in der Regel unbeobachtet bleiben möchte. Wird aber doch über den Rand gegafft, dann hieße das im Falle der Wahlkabine „Verletzung des Wahlgeheimnisses“ und im Falle der Toilette, nun ja, das kann dann jeder nennen, wie er lustig ist. Was allerdings keineswegs lustig ist: Anders als seine Opfer sitzt der Spanner noch nicht hinter Schloss und Riegel. Eine Formulierung, die ohnehin nur dem Wortwitz dient, denn eine juristische Strafe würde den Täter wohl nicht erwarten. Wer eine Peepshow mit einer Pee-Show verwechselt, hat nur mit einem Hausverbot zu rechnen. Schade und wohl wirkungslos, denn anscheinend interessiert es den Spanner sowieso nicht, wo es ihm erlaubt ist, sich aufzuhalten und wo eben nicht. Letzteres trifft über jeden Zweifel erhaben auf die Damentoiletten zu. Und die Herrentoiletten. Und generell auf jedes stille Örtchen der Intimsphäre. Und sowieso: Einmal angenommen, der Pinkelpaparazzo, der, unbestätigten Quellen zufolge auch ein Smartphone dazu nutzte, über die Kabinenwände zu linsen, verfügt auf eben diesem Smartphone ebenfalls über Internetzugang…dann, wozu der Aufwand? Das Internet liefert bekanntermaßen für jeden Fetisch etliche einschlägige Websites und Foren. Das bekleckert unsere Gesellschaft zwar nicht unbedingt mit Ruhm, aber den Täter und die Opfer immerhin auch nicht mit Scham und Schande.

 

Von Lauren Ramoser
Die Uni: Ein Ort des Lernens und der Bildung. Fernab vom Reality-TV, der Boulevardpresse und absolut skandalfrei, man könnte sagen: ereignislos. Bis jetzt. Denn seit vergangenem Sommer ist es in der Damentoilette im Erdgeschoss des Uni Hauptgebäudes vermehrt zu Fällen von Voyeurismus gekommen. Wir haben also einen handfesten Spannerfall: Ein bisher unbekannter Mann hatte sich in einer der Kabinen eingeschlossen und über die Trennwand in die Nachbarkabine geguckt. Daraufhin sind mehrere Hinweise von WC-Benutzerinnen bei der Hausverwaltung eingegangen. Auch die Frauen an der Garderobe haben den Tumult an den entsprechenden Tagen mitbekommen. Die Campus Security geht von einem Einzeltäter aus. Gefasst werden konnte dieser bisher allerdings nicht, obwohl der Sicherheitsdienst vermehrt Kontrollen durchführt. Sollte WC-Benutzerinnen etwas Verdächtiges auffallen, bittet die Hausverwaltung um sofortige Meldung unter 0228/73-7347 oder direkt bei der Campus Security unter 0228/73-7444.

Anwesend gewesen?

Die Anwesenheitspflicht für Lehrveranstaltungen ist endgültig aufgehoben. Nur ein paar Ausnahmen bleiben bestehen – so regelt es seit Oktober 2014 ein Gesetz in NRW. Doch einige Dozenten wehren sich dagegen – und andere verstehen den ganzen Wirbel nicht.

Von Alexander Grantl

Allein gelassen: ist Dozentin Alice Barth nur auf diesem Foto – ihre Übungen sind besser besucht

 

»Hochschulzukunftsgesetz« heißt es, am 1. Oktober 2014 ist es in Kraft getreten und vor allem sein § 64 sorgte für Aufsehen. Dieser regelt nämlich klar, dass die Teilnahme an Lehrveranstaltungen grundsätzlich nicht mehr Voraussetzung ist, um zu einer Prüfung zugelassen zu werden. Eine allgemeine Anwesenheitspflicht ist demnach unzulässig. In einigen Ausnahmen ist sie jedoch erlaubt, zum Beispiel bei Exkursionen, Sprachkursen, Praktika, praktischen Übungen oder vergleichbaren Veranstaltungen.

Allein, dass es das Gesetz gibt, heißt jedoch nicht, dass sich auch jeder daran hält. Das Referat für Hochschulpolitik des AStA rief im Dezember Studierende auf, sich zu melden, wenn Dozenten versuchten, die Abschaffung zu umgehen. Mindestens 11 Kurse verschiedener Fakultäten seien mittlerweile bekannt geworden, in denen versucht worden sei, der Abschaffung auszuweichen. Viele Beschwerden seien aus Informatik- und Philosophie-Kursen gekommen. Zudem prüfe man Hinweise, denen zufolge ganze Institute die Abschaffung ignorierten.

„Es gibt an der Uni viel drängendere Probleme als die Abschaffung der Anwesenheitspflicht“, sagt Alice Barth. Die 27-Jährige ist Dozentin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie. Sie kann das ganze Aufsehen nicht verstehen. Es sei schade, dass es überhaupt dieses Gesetz gebraucht habe – die „Idee des Studiums“ sei schließlich, etwas aus eigenem Interesse zu lernen. Dass ihre Studierenden durchaus andere „Ideen“ vom Studium haben, gibt Barth allerdings selber zu: „Ich schätze, dass man anstatt – wie zuvor – zwei Mal zu fehlen, nun viermal fehlt.“ Allerdings seien dafür auch „weniger Leute da, die ganz offensichtlich schlafen.“

Dozenten nutzen offenbar verschiedene Möglichkeiten, die Abschaffung zu umgehen. Der Hochschulpolitik-Referent des AStA, Simon Hansen, berichtet, dass die Dozenten meist einfach weiterhin Anwesenheitslisten ausfüllen ließen und dabei erklärten, die Listen würden unter anderem zu Referatsbenotungen herangezogen. Ein einzelner Dozent würde sogar Mitarbeitsnoten vergeben. Andere versuchten hingegen, Kurse als „praktische Übung“ auszugeben, um von der Ausnahmeregelung zu profitieren.

Das Hochschulpolitik-Referat könne in diesen Fällen auf mehrere Arten helfen. Nach einer persönlichen Beratung des Studierenden würde man den entsprechenden Dozenten zunächst um Unterlassung bitten – andernfalls drohe man mit einer Personal- oder Rechtsaufsichtsbeschwerde. Dabei gehe man im Referat stets vertraulich vor, um die Identität des Studierenden zu schützen, der sich beschwert. Sollte das Problem jedoch weiterhin bestehen, sei das Referat bereit, eine Klage des Studierenden zu unterstützen.
Referent Hansen gibt dabei zu: „Die DozentInnen hassen uns – verständlich.“ Aber für ihn sei wichtiger, Klarheit für Studierende zu schaffen, was zulässig ist und was nicht.

Ankommen in Bonn

Gedanken über die Neubürgergutscheine der Stadt – Zur Anmeldung in der Stadt Bonn erhält man von eben dieser ein Gutscheinbündel. Theaterbesuche, Stadtrundführungen, Eintrittsvergünstigungen in Museen und Schwimmbädern – das alles, um den neu Zugezogenen das Ankommen in Bonn zu erleichtern. Ob das klappt?

Von Hannah Rapp

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Wie lange dauert es, bis man sich nach einem Umzug in eine andere Stadt nicht mehr neu, sondern heimisch fühlt? Wenn man sein Lieblingscafé entdeckt hat, in dem man schon aus Prinzip jedes Mal dasselbe bestellt? Oder wenn man auf der Straße angesprochen wird und tatsächlich den Weg zur gesuchten Adresse ohne Probleme erklären kann? Und wird man erst zum richtigen Bonner, wenn man einen spektakulären  Straßenbahnschienen-Fahrrad-Unfall  hatte oder sich vom Alle-mal-malen-Mann hat porträtieren lassen?

Ich bin jetzt seit ziemlich genau zehn Monaten in Bonn und fühle mich schon länger nicht mehr neu hier. Die Frage, ob ich mich angekommen fühle in Bonn, fiel mir wortwörtlich vor die Füße, als ich ein Buch aus meinen falsch zusammengebauten Billyregal zog und mir dabei meine „Neubürgergutscheine“ entgegenflatterten. Diese Gutscheine für Neubürger, die man bei seiner Anmeldung im wunderschönen Stadthaus erhält, schenken einem zum Beispiel den Eintritt für den Besuch in verschiedene Museen oder vergünstigen den Theaterbesuch und sollen wohl das Einleben in Bonn erleichtern. Eigentlich eine gute Sache, aber ich denke, den meisten ergeht es mit diesen Gutscheinen wie mir: Als ich im Theater mit Gutschein und Meldebestätigung ausgerüstet an der Kasse stand, hab ich mich gefühlt wie eine geizige Omi mit einem vergilbten Rabattmarkenheft, die an der Aldikasse den ganzen Verkehr aufhält. Nein, ich habe auch keine Paybackkarte! So sind die meisten meiner Gutscheine mittlerweile abgelaufen, ohne dass ich mehr einen davon eingelöst hätte.

Als ich mir diese ungenutzten Gutscheine  nun angeschaut habe, ist mir aufgefallen, wie wenige Bonn-Pflichtaktivitäten ich in den letzten Monaten abgeklappert habe. Aber wahrscheinlich ist es wirklich so: In den Städten, in denen man lebt, macht man gerade nicht die Dinge, die jeder Touri während seines Wochenendtrips abarbeitet. Und vielleicht sollte ich auch versuchen, mein schlechtes Gewissen deswegen wieder abzustellen. Denn auch wenn ich mich schon etwas schäme, dass ich in den letzten Monaten weder im Beethovenhaus war, noch eine Rheinfahrt gemacht habe, kann man dies wohl nicht als Maßstab für das Gefühl des Angekommen-Seins nehmen.

Was beim Ankommen hilft, ist wahrscheinlich für jeden anders und im Nachhinein auch nicht mehr greifbar. Ich hätte zwar dank der Gutscheine umsonst Tangotanzen lernen oder einen Gemmenabguss im Akademischen Kunstmuseum erhalten können, aber ob mir das tatsächlich geholfen hätte, mich mehr „Zuhause“ in Bonn zu fühlen, bezweifle ich doch. Eine Faustregel könnte aber sein: Angekommen ist man spätestens dann, wenn alle Neubürgergutscheine abgelaufen sind. ¬

Treffen sich zwei Völker

»Bogida«-Demo und Gegenprotest in Bonn – Zwei Mal trafen sich im Dezember Frauen und Männer in Bonn, um gegen eine »Islamisierung des Abendlandes« zu demonstrieren. Sie hatten zahlreiche weitere Forderungen mitgebracht. Noch zahlreicher war allerdings der Gegenprotest. Und der hatte nur eine Forderung: »Nazis raus!«

Text & Fotos: Alexander Grantl

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In der Kölnstraße besprechen sich Polizeibeamte während der zweiten „Bogida“-Demo im Dezember. Kurz zuvor hatten dort Gegendemonstranten eine Polizeiabsperrung überwunden und sich der „Bogida“-Kundgebung genähert.

„Nee“, beantwortet der Polizist die Frage knapp, ob er heute gerne hier sei. Mehr will er nicht sagen, was seine Antwort nur glaubwürdiger macht. Der Kollege neben ihm ist etwas gesprächiger. Schon seit ein paar Minuten unterhält er sich mit einem jungen Mann über Karrieremöglichkeiten bei der Polizei, mittlerweile duzen die beiden sich. Ja, gibt der Beamte danach zu, ihm sei ein wenig langweilig, aber das gehöre eben dazu.

Etwa 600 Polizistinnen und Polizisten sind an diesem kalten Montagabend im Dezember in Bonn. Nicht alle sind so entspannt, dass sie sich auf Gespräche mit Passanten einlassen. Die obere Hälfte des Kaiserplatzes, direkt am Uni-Hauptgebäude, haben sie zu allen Seiten abgeschottet, Schulter an Schulter stehen sie dort und bilden eine robuste Sperre. Weit hinter ihnen sieht man, wen sie schützen: Ein kleiner Haufen Menschen hat sich dort versammelt, um unter der Bezeichnung „Bonn gegen die Islamisierung des Abendlandes“ gegen eine Vielzahl von Dingen zu demonstrieren. Einige von ihnen haben große Deutschlandfahnen in den Händen. Ein paar fuchteln damit ganz schön wild herum, aber die Gefahr, dass sie jemanden verletzen, ist gering, denn sie haben genug Platz. Anders als die Teilnehmer des Gegenprotests „Bonn stellt sich quer“. Hier ist es eng, hier ist es laut. Nur wer nahe an der Polizeiabsperrung steht, kann manchmal hören, was die „Bogida“-Redner verkünden. Als dort Akif Pirinçci das Wort ergreift, reagieren die Gegendemonstranten mit Pfeifen, Brüllen und Skandieren.

Pirinçci ist einer der prominentesten Redner an diesem Abend. „Prominent“, weil er mit seinem teils menschenverachtenden Buch über den „irren Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ 2014 viel Aufmerksamkeit bekam. Von seinem Vortrag ist bei den Gegendemonstranten nichts mitzubekommen. Zwischen 1700 und 3000 Menschen sollen sich versammelt haben, um den 300 Teilnehmern von „Bogida“ entgegenzutreten. Und wenn von diesen doch mal ein entschlossenes „Wir sind das Volk!“ zu den Gegendemonstranten herüberdringt, erheben diese ihre Stimmen erneut – bis zur Heiserkeit.

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Nicht nur inhaltlich getrennt – auch räumlich fanden Gegendemonstranten (Vordergund) und „Bogida“ nicht zusammen (hier bei der zweiten „Bogida“-Demo im Dezember)

Demonstrantin Sarah „Wir sollten alle Antifaschisten sein“

Demonstrantin Sarah „Wir sollten alle Antifaschisten sein“

Sarah ist noch nicht heiser. Für die 21-Jährige ist es nicht die erste Demo, aber eine wichtige. Sie studiert in Bonn, saß für die Grüne Hochschulgruppe im Studierendenparlament, engagiert sich gegen Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit und ist selbst Muslima. Immer wieder blickt sie an diesem Abend auf ihr Handy, telefoniert, spricht sich ab, organisiert. Denn die „Bogida“-Demonstranten sollen eigentlich gar nicht auf dem Kaiserplatz verharren, sondern einen „Spaziergang“ durch Bonn machen. Und das will Sarah in jedem Fall verhindern. „Ich glaube, man muss denen einfach richtig zeigen, dass ihr Gedankengut in Deutschland von einer Mehrheit eben nicht toleriert wird“. Wenn nötig, will Sarah an einer Sitzblockade teilnehmen, um den Aufzug zu behindern. Dass sie sich damit in eine rechtliche Grauzone begibt, nimmt sie in Kauf. „Es ist das Recht jedes Menschen, seine Religion friedlich und frei auszuleben und damit akzeptiert zu werden. Wer Muslime in einen Topf mit Radikalen wirft, für den habe ich kein Verständnis! Natürlich verurteile ich so etwas wie den ‚Islamischen Staat‘. Aber der hat mit unserer friedlichen Religion, dem Islam, nichts zu tun. Wem diese Differenzierung nicht gelingt, der hat ein großes Problem.“

„Wir sind die Friedlichen hier“, schallt es währenddessen von den „Bogida“-Demonstranten herüber. Die Anmelderin der Demo, Melanie Dittmer, musste den Teilnehmern gerade mitteilen, dass es heute zu keinem Spaziergang mehr kommen werde. Die Polizei wolle die Situation nicht unnötig verschärfen, indem sie die zahlreichen Gegendemonstranten vertreibe, die sich rundherum versammelt haben. Dittmer ist im Landesvorstand der rechtsextremen Kleinpartei „ProNRW“. Zuvor war sie bei den „Jungen Nationaldemokraten“ aktiv, der offiziellen Jugendorganisation der NPD. Und von dieser rechtsextremen Vergangenheit will sie sich auch nicht distanzieren, teilt sie den Anwesenden an diesem Abend mit. Diese tragen immer wieder Sprechchöre vor, von „Ahu, ahu!“ – einem bei Hooligans beliebten Kampfschrei – bis zu „Wir sind das Volk!“

Aber was will es eigentlich, dieses „Volk“? Nun, keine Islamisierung des Abendlandes, das verrät ja schon der Name der Zusammenkunft. Dabei ist es offenbar auch egal, wie sehr Wissenschaft und Medien sich bemühen, der falschen Behauptung von einer Islamisierung mit Fakten zu begegnen – bei „Bogida“ stößt man auf taube Ohren. Denn: Neben etablierten Parteien misstrauen viele Demonstranten auch den Journalisten. Oder anders gesagt: „Die Journalisten sind mit den Gewerkschaften und den Linksparteien – ganz vorne dabei sind die Grünen – die Totengräber des deutschen Volkes! Sie wollen uns Deutsche ausrotten“, so schreit es jedenfalls einer der Redner auf der Bogida-Kundgebung ins Mikrofon. Etwas später möchte er feststellen, dass es im Jahr 2014 bereits 53 Millionen Muslime in Deutschland gegeben habe. Die Gegendemonstranten hören davon nichts. Es ist vielleicht besser so.

„Bloß ein Kugelfisch“ – Pappschild eines Gegendemonstranten während der ersten „Bogida“-Demo Mitte Dezember

„Bloß ein Kugelfisch“ – Pappschild eines Gegendemonstranten während der ersten „Bogida“-Demo Mitte Dezember

Wenn man Sarah fragt, was das für Menschen sind, die sich, obwohl in beeindruckender Unterzahl, als „das Volk“ bezeichnen, denkt sie einen Moment nach. Sie selbst hat immerhin nicht gezögert, sich den „Nazis raus“-Rufen anzuschließen. Aber ist es so einfach? „Ich glaube, es sind viele Mitläufer. Leute, die sich von dieser Stimmungsmache schnell angesprochen fühlen. Und es gibt eindeutig Rechtsextreme, Nazis, die diese Versammlungen ausnutzen.“
Die Leute dort ließen sich von etwas Angst einjagen, das es faktisch gar nicht gäbe. Bestätigt sieht sich Sarah in den Zahlen aus Dresden: An der dortigen „Pegida“-Demonstration nahmen zuletzt 25.000 Menschen teil, während Muslime 2010 weniger als 0,1% der sächsischen Bevölkerung ausmachten. „Wer mit Nazis marschiert, darf sich nicht wundern, zu eben solchen gezählt zu werden“, rechtfertigt sich Sarah.

Welche Einstellungen die Teilnehmer der „Bogida“-Demo tatsächlich haben, lässt sich jedoch nicht endgültig sagen. Ebenso wenig, wie man die Teilnehmer des Gegenprotests einordnen könnte. Zwar sind politische Parteien, ihre Hochschulgruppen und Gewerkschaften vertreten, aber „Krawallmacher“, sagt Sarah, „die gibt es auf beiden Seiten. Leute, die einfach rumschreien oder mit Sachen werfen wollen und auf Gewalt aus sind. Davon halte ich nichts.“ An diesem Abend bleibt es aber friedlich. Und weil der geplante Spaziergang ausfällt, braucht Sarah auch an keiner Sitzblockade teilzunehmen. Einer ihrer Freunde findet es dennoch „beachtenswert, wenn junge Menschen so viel riskieren, um auf Missstände aufmerksam zu machen“. Selbst wollte er sich aber an keiner Sitzblockade beteiligen.

Gegen 20.30 Uhr bewegt sich die lebendige Polizeiabsperrung dann plötzlich. Die Beamten der Einsatzhundertschaften marschieren in Kleingruppen zu ihren Einsatzfahrzeugen. Es ist vorbei. Die Teilnehmer des gescheiterten „Bogida“-Aufzugs waren zuvor zu ihren Pkw, Bussen oder zur Stadtbahn-Haltestelle eskortiert worden.

„Es war richtig gut. Es war ein Erfolg“, findet Sarah. So mutig habe sie Bonn nicht eingeschätzt. Dass sie viele junge Menschen, viele Studierende aber auch ältere Leute getroffen habe, freue sie besonders. „Das ist ein Thema, das unsere ganze Gesellschaft spalten kann. Jeder muss sich damit auseinandersetzen.“
Und das tut Sarah auch eine Woche später wieder, zwei Tage vor Heiligabend, dieses Mal auf dem Bonner Marktplatz. Wieder hat Melanie Dittmer einen „Bogida“-Spaziergang angemeldet. Wieder stehen etwa 300 Teilnehmer rund 3000 Gegendemonstranten gegenüber. Der Spaziergang gelingt dieses Mal, gesichert durch über 900 Polizeikräfte.

Vorerst soll es keine weiteren „Bogida“-Veranstaltungen geben. Im Januar trennte sich „Pegida“ von Melanie Dittmer und distanzierte sich von den „Bogida“-Demonstrationen in Bonn.

Flucht und Ankunft

Von Angst, Abgrenzung und Aufgeschlossenheit – Diskussion und Demonstration, Flucht und Furcht: Krisen machen nicht an Landesgrenzen Halt – warum die Welt zu komplex für einfache Antworten ist.

Von Felix Rudroff

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Hierzulande geht es – neben vielen irgendwie diffusen Unzufriedenheiten – um Zuwanderung, Flüchtlingsströme, Religion, die eigene Identität und ganz besonders um Angst. Es ist eine sehr vielschichtige, teils gespaltene Debatte, sie bewegt sich zwischen Warmherzigkeit und Kaltblütigkeit, zwischen Gleichgültigkeit und Anteilnahme.

Die Ursachen der derzeitigen Weltlage sind häufig zu komplex, um sie zu vermitteln und direkt verstehen zu können. Medien und Politik stehen extrem beschleunigten, teils unberechenbaren Prozessen gegenüber und politische Agenden und mediale Schwerpunktsetzungen bewegen sich mit großer Dynamik in nicht prognostizierbare Richtungen. Die gegenwärtige Situation verunsichert und sorgt mancherorts für Abgrenzung und Ablehnung. In Dresden gingen am Montag, dem 12. Januar, 25.000 Menschen gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße, zeitgleich kehrten sich andernorts die Verhältnisse um, beispielsweise in Hannover, München oder Leipzig, wo am gleichen Abend jeweils zwischen 20.000 und 35.000 Menschen gegen eine Spaltung der Gesellschaft Position bezogen. In Bonn ist der regionale Ableger der sogenannten Pegida-Bewegung nach zwei „Spaziergängen“ verschwunden und hat es nicht ins Jahr 2015 geschafft. Das Thema ist allerdings auch in NRW aktueller denn je.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR beziffert in seinem Bericht „Global Trends“ die Zahl der Personen, die 2013 im völkerrechtlichen Sinne als Flüchtlinge gezählt wurden, auf 16,7 Millionen. Ein kurzer Blick auf die Ereignisse in Syrien, im Irak, im Norden Nigerias, im Osten der Ukraine und an vielen anderen Orte dieser Welt genügt, um davon auszugehen, dass immer mehr Menschen sich gezwungen sehen werden, ihre Heimat zu verlassen, um anderswo in Sicherheit leben zu können.

In einer Pressemitteilung vom 14. Januar teilt das in Deutschland für Asyl zuständige Bundesministerium des Inneren (BMI) mit, im Jahr 2014 seien beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 202.834 Asylanträge eingegangen und somit über 75.000 mehr als im Vorjahr. Abgelehnt worden seien die Anträge von 33,4 Prozent der Antragstellenden. Weiterhin hätte man 35,2 Prozent der Anträge „anderweitig erledigt“, beispielsweise durch das „Dublin-Verfahren“, so das Ministerium. Dieses bedeutet, dass die entsprechenden Personen in den europäischen Staat zurückgeschickt werden, in dem sie erstmalig registriert wurden. Es ist somit davon auszugehen, dass über 68 Prozent der Asylsuchenden Deutschland wieder verlassen mussten und ihre Flucht jenseits der hiesigen Grenzen fortsetzten oder an den Ort zurückkehrten, von dem sie geflohen waren.

Innerhalb Deutschlands erfolgt die Verteilung von Flüchtlingen nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl, dem sogenannten „Königsteiner Schlüssel“, auf die einzelnen Bundesländer. Diese verteilen dann wiederum die Asylsuchenden auf die Kommunen. Mittlerweile wird immer häufiger von einer Überforderung auf allen Ebenen berichtet. „Bonn bietet bereits heute 823 Flüchtlingen aus mehr als 30 Nationen Zuflucht“, lässt die Stadt Bonn in einem Artikel vom 12. Januar auf ihrer Internetseite verlauten. Zudem verfolge die Stadt konsequent das Konzept einer – nach Möglichkeit – dezentralen Unterbringung und suche ständig nach neuen Unterbringungsmöglichkeiten. Die Stadt muss mit begrenztem Geld und Personal die Beherbergung Asylsuchender allein tragen und ist auf umfangreiche ehrenamtliche Hilfe angewiesen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Es gibt in Bonn neben kleineren Einrichtungen eine Erstaufnahmeeinrichtung sowie einige größere Unterkünfte; eine weitere soll bis Mitte diesen Jahres in einer ehemaligen Kaserne in Form eines „dreigeschossigen Gebäudes in Containerbauweise“, wie die Stadt bekannt gab, errichtet werden.

Krisen und Kriege – häufig fundamentalistisch und nationalistisch motiviert – machen vor der „Festung Europa“ und somit auch vor Bonn nicht Halt und sind nur so lange abstrakt, wie sie persönlich nicht erfahren werden. Die Angst vor Tod und Terror ist omnipräsent – überall. Führerlose Flüchtlingsschiffe auf dem Mittelmeer erscheinen gewissermaßen symbolisch für den gegenwärtigen Zustand. Es bleibt zu hoffen, dass die Zukunft möglichst vielen Menschen ein angstfreies und friedliches Zusammenleben ermöglicht. Viele Bonner Bürgerinnen und Bürger leisten bereits mit viel Engagement einen großen Beitrag hierfür. Diesen gilt es an dieser Stelle zu danken und andere zu motivieren, sich entsprechend anzuschließen.

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Wie kann ich konkret helfen?

Wer konkret einen kleinen Beitrag leisten möchte, kann sich hier vor Ort in Bonn engagieren. Es gibt unterschiedliche Vereine und Arbeitskreise von Freiwilligen, die Deutschunterricht geben, gemeinsam Fußball spielen oder Beistand und Hilfestellung bei Behördengängen und Arztbesuchen leisten.
Einige Kontaktdaten kann man über die Webseite der Stadt erhalten. Um den Kontakt zwischen Uni und den Mitmenschen in Asylunterkünften zu verbessern, hat sich an der Bonner Uni eine kleine Gruppe Studierender als „Initiative für Flüchtlinge Bonn“ zusammengefunden – mit dem Ziel, Flüchtlinge und Interessierte auf persönlicher Ebene miteinander in Kontakt zu bringen. Es soll regelmäßig Veranstaltungen geben und eine Vernetzung mit Studierenden verschiedener Fachbereiche ist geplant.

Wer über aktuelle Veranstaltungen informiert werden oder sich einbringen möchte, folgt der Initiative für Flüchtlinge Bonn (IfF) am besten auf Facebook oder schreibt eine Mail an iffbonn@gmail.com.

Kommentar: An Aging Europe in Decline? Nein, danke!

Von Varvara Stegarescu

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„Kümmer dich nicht drum, die Alte macht’s eh nicht mehr lange!“

 

„I’ve fallen and can’t get up” – mit diesem Satz fasste Arthur C. Brooks, Präsident des American Enterprise Institute, den aktuellen Zustand Europas zusammen. Die verheerende Diagnose wurde dem kranken Patienten Europa in einem Zeitungsartikel der New York Times (vom 7. Januar 2015) ausführlich erläutert. Nach einer scharfen und sehr reflektierten Analyse gab es für den amerikanischen Autor keine Zweifel: Wir hätten mit “an aging Europe in decline“ zu tun.

Die Probleme Europas seien in erster Linie demografischer Natur, so Arthur C. Brooks. Der durchschnittliche Europäer wird älter. Gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Nichtsdestotrotz: auch wenn wir demnächst in einer Welt leben würden, in der viele Menschen keine Geschwister, Cousinen, Tanten oder Onkel hätten, regt uns der Autor an, auf die Sonnenseite der Geschichte zu schauen: Wenigstens wird man zu Weihnachten weniger Geschenke kaufen müssen. Aus der Sicht Arthur C. Brooks wird Europa neben den demografischen Problemen mit einer besorgniserregenden Beschäftigungslage konfrontiert. Nur 57,7 Prozent der Europäer waren 2013 beschäftigt oder suchten eine Arbeit im Vergleich zu 62,7 stolze Prozent der Amerikaner. Der alte Kontinent wird gleichzeitig von fremdenfeindlichen Bewegungen geplagt. So wurde der Amerikaner bei der Beschreibung der Anti-Migranten-Ressentiments der Europäer dazu gebracht, Europa mit einem aufgebrachten Opa zu vergleichen, der Eindringlinge mit seiner Krücke bedroht und anschreit, damit sie sein Privateigentum verlassen – kein schönes Bild nebenbei bemerkt. Zum Schluss fasste der Autor zusammen: Ein Land oder ein Kontinent ist vom Niedergang bedroht, ”if it rejects the culture of family, turns its back on work, and closes itself to strivers from the outside“. An aging Europe in decline, also?

Ein befreundeter Zeitverfolger machte mich darauf aufmerksam, dass Arthur C. Brooks mit seiner Diagnose keineswegs Unrecht hat. Mein Protest, bei dem ich leistungsstarke Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie Dozentinnen und Dozenten erwähnt habe, bei dem ich meine positiven Erfahrungen als Osteuropäerin in Deutschland betont habe, bei dem ich meine Bewunderung für die Leistungsbereitschaft derjenigen, mit denen ich im FSJ, als Studentin oder Praktikantin zusammengearbeitet habe, überzeugte nicht. Mein Gesprächspartner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Ja, aber wen kennst du denn? Du kennst nur Studierende und Akademiker. Die Realität sieht aber anders aus.“ Möglicherweise – erwiderte ich, nichtsdestotrotz wurden schon immer die meisten Errungenschaften menschlicher Zivilisation von einer begrenzten Anzahl von Personen vorangetrieben. Von denjenigen, die nicht aufgeben wollen und nicht bereit sind, vermeintliche Grenzen zu akzeptieren, bevor man überhaupt versucht hat, nach Lösungen zu suchen. Nach mehreren Jahren Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise in Europa, wird die heranwachsende Generation schon als „verlorene“ Generation gesprochen, von der Generation, die die Schuldenberge der EU-Staaten auf die Schulter tragen wird. Es ist von jungen Europäerinnen und Europäer die Rede, die vielleicht die letzten Atemzüge eines friedlichen Europas erleben und den zunehmenden Bedeutungsverlust Europas in der Welt achselzuckend hinnehmen werden.

Dass es momentan in Europa und auf der ganzen Welt unzählige Probleme und Herausforderungen gibt, ist keine Frage. Fraglich ist nur, warum reden alle so darüber, als ob bereits alles Mögliche versucht und getan worden wäre, damit Fortuna unser Europa noch mal anlächelt? Warum wird eine Generation für „verloren“ erklärt und dazu verdammt, in einem „aging Europe in decline“ zu leben, bevor wir überhaupt zu der Reife gelangt sind, bei der man sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst wird, und Verantwortung für das eigene Schicksal übernehmen kann? Und vor allem gedenkt man im Ernst, den jungen Heranwachsenden bereits den Stempel der Verweigerung, Familien zu gründen, in die Hände zu drücken? Gibt es Anhaltspunkte, zu behaupten, dass unsere Generation, die sich durch unbezahlte Praktika einen Platz in der heutigen Arbeitswelt sucht, keine leistungsstarken Arbeitnehmer oder Unternehmer hervorrufen wird? Ist das eine ernste Behauptung, dass gerade für unsere Generation, die das höchste Ausmaß an Mobilität in der Menschheitsgeschichte genießen darf, Fremdenfeindlichkeit eine Option darstellt?

Scharfe und sehr reflektierte Analyse beiseite, ich kann und werde dem Standpunkt von Arthur C. Brooks  nicht zustimmen. Dabei verfüge ich weder über die „besseren“ Argumente noch über die „besseren“ Erfahrungen. Ich verfüge lediglich über eine andere Perspektive auf die Zukunft Europas, auf unsere Zukunft. Für uns ist „an aging Europe in decline“ keine Option. Dafür haben die letzten Generationen bereits wichtige gesellschaftliche Konventionen durchbrochen und somit für uns andere Entwicklungschancen geschaffen, die es bisher in der Menschheitsgeschichte nicht gegeben hat.
Wie bereits erwähnt, bin ich mir bewusst, dass es momentan in Europa und auf der ganzen Welt unzählige Herausforderungen gibt, mit denen wir fertig werden müssen. Solange es aber wenigstens eine Handvoll Personen unserer Generation gibt, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt, mache ich mir für dieses Europa keine Sorgen. Diese Handvoll Menschen gibt es bereits, und es hat sie in der Vergangenheit schon immer gegeben.

Varvara Stegarescu studiert Politik und Gesellschaft. Trotz aktueller Herausforderungen bleibt sie Optimistin.