Keine Angst vor Europa

Bonn, deine Lehrenden Prof. Ludger Kühnhardt ist Direktor des Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI). Mit der AKUT spricht er über Europa, dessen Chancen und Herausforderungen und über einen beeindruckenden Lebensweg.

Interview FLORIAN ESSER, mit Fragen von VARVARA STEGARESCU

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Foto: Alexander Grantl / AKUT

AKUT   Was hat Sie dazu motiviert, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen?

KÜHNHARDT   Dicke Bretter zu bohren, weiter zu schauen und, hoffentlich, mit Hilfe klarerer Analysen auch in der Lehre die Erkenntnisse, die ich gewinnen durfte, weiter zu geben.

AKUT   Was könnte man bei dieser Lehre – gerade in Bonn – verbessern?

KÜHNHARDT   Die Bonner Lehre in der Politischen Wissenschaft ist im Prinzip in der ganzen Breite des Faches gut aufgestellt. Sie ist in den Traditionen verwurzelt, die hier seit 1959, von Karl Dietrich Bracher begründet, das Profil geprägt haben. Sie hat sich im Laufe der Zeit immer wieder neu erfunden, neue Schwerpunkte gebildet und sich neuen Aufgaben gestellt. Mein Eindruck ist, auch durch das Gespräch mit vielen Studierenden, dass im Grunde das Bonner Lehrangebot in den hier verfügbaren Studiengängen auch auf eine sehr positive und weitgehend zufriedene Nachfrage der Studierenden stößt.

AKUT   Wo Sie gerade von den Studierenden sprechen, gibt es da für Sie einen Unterschied zu Ihrer Generation der Studierenden? Gibt es einen Unterschied im Denken?

KÜHNHARDT   Früher haben wir vermutlich mehr gelesen und nicht immer gleich gefragt, wie viele ECTS-Punkte es für wie viele gelesene Seiten gibt. Früher war der Versuch stärker, im Sinne des klassischen Studium Universale, möglichst viel aus den Erkenntnissen benachbarter Disziplinen oder aus Fächern, die einen auch noch interessieren, mit in das eigene Denken hinein zu nehmen. Dies war ein natürlicher Antrieb des Studiums. Der Zugang zu der Art, wie man überhaupt an Wissen herankommt und sich mit der Frage auseinandersetzt, wie denn neues Wissen auch durch neue Studierendengenerationen in die Welt kommt, hat sich unter den Bedingungen der Digitalisierung und der alles präsenten Informationsflut fundamental geändert.

AKUT   Betrifft das in Ihren Augen nur die Studierenden oder die komplette Gesellschaft, vielleicht sogar ganz Europa?

KÜHNHARDT   Ich sehe das Ganze nicht als einen Abstieg, sondern eher so, dass jede Generation ein Teil von Transformationen ist, in denen wir alle leben. Die großen derzeitigen Transformationen in den Medien und der Kommunikationskultur werden auf Dauer wohl auch eine ganz neue Form der Wissenschaft hervorbringen. Dabei ist gleichzeitig klar, dass Grundfragen und auch Grundkenntnisse sich nicht deswegen überholen, weil sie alt werden. Alt ist ja nicht das Gegenteil von modern. Die Wasserscheide liegt in der Frage, ob sich eine Methode bewährt hat, um sich eine fundamentale Substanz an Wissen anzueignen. Das ist eine Aufgabe, die sich jenseits von allen Generationenwechseln für alle stellt und zwar unabhängig von der Frage, wie man denn an Wissen und Wissensvermehrung auf optimale Weise herankommen kann.

Was Europa angeht, kann man sagen, dass Europa heute zu einer Selbstverständlichkeit im Radarsystem eines jeden Studierenden der Geistes- und Kulturwissenschaften geworden ist. Noch in den Zeiten meines Studiums war Europa im Wesentlichen eine kulturwissenschaftliche Kategorie, die uns Auskunft gegeben hat über unsere geistige und kulturelle Herkunft. Heute ist Europa als Thema der Wissenschaft natürlich weiterhin mit diesem Auftrag verbunden, zwingt uns aber zugleich auch eine Auseinandersetzung mit den Fragen unserer politischen, ökonomischen und juristischen Gegenwart auf.

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Foto: Alexander Grantl / AKUT

AKUT   Viele Krisenländer der EU sehen die kommende Generation als verloren an. Sehen Sie das ähnlich oder denken Sie, dass das Potenzial Europas bloß noch nicht ganz ausgeschöpft wird?

KÜHNHARDT   Das ist kein Widerspruch. Die Tatsache, dass sich so viele junge Menschen in Europa, vor allem durch Arbeitslosigkeit, an den Rand gedrängt und nicht einbezogen fühlen in den Mainstream der europäischen Entwicklungen, ist ein bedrückender Zustand, der zugleich darauf verweist, dass wir das Potenzial der jungen Menschen, die sich nicht als Teil des heutigen Europas verstehen, nicht ausreichend nutzen. Deswegen ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu Recht bei allen Politikern kreuz und quer durch Europa, jedenfalls rhetorisch, auf allen Fahnen zu lesen. Die Tatsache, dass es so eine erschreckend hohe Zahl an Jugendlichen gibt, die nach Abschluss einer Ausbildung Schwierigkeiten haben, in den Beruf zu finden, ist ein bedrückendes Problem in der heutigen EU.

AKUT   Welche Möglichkeiten sehen Sie, dieses Problem zu bekämpfen?

KÜHNHARDT   Es geht immer darum, Wachstumskräfte zu fördern, in deren Folge neue und solide Arbeitsplätze geschaffen werden. In einem Europa, dass auf der einen Seite älter wird, gleichzeitig zum Teil eine schrumpfende Bevölkerung hat, und auch an vielen Orten mit Widerständen konfrontiert ist, mehr Migration zuzulassen, muss man diese Frage in einem globalen Kontext völlig neu stellen. Die Frage der Aktivierung von Wachstumspotenzialen in den Gesellschaften Europas kann man nur noch im Kontext der weltweiten Entwicklung sehen. Und da müssten auch in Europa kreativere Gedanken entwickelt werden, in den Wissenschaften, in der Forschung, in der Industrie und in der Politik. Wachstumspotenziale ergeben sich nicht mehr einfach nur dadurch, dass wir die Dinge, die wir in Europa kennen, lieben und schätzen gelernt haben, optimieren und noch die 35. Verfeinerung des Modells unserer Kaffeetassen, Schreibtische oder Krankenhausequipments erzeugen, sondern wir müssen uns mit der Frage befassen: Wie kann Europa seinen eigenen Wohlstand auch dadurch halten und an die nächsten Generationen weitergeben, dass wir innovative Konzepte entwickeln – zum Wohle der Mehrheit in den heute sogenannten »armen Ländern«. Denn ich glaube, das ist das größte Problem, vor dem die junge Generation Europas steht. Wir haben etwa eine Milliarde Menschen rund um Europa, die in armen Ländern leben. Der Bevölkerungsdruck dort ist nicht nur die Folge von Kriegen, die zu Flüchtlingsbewegungen führen, und ist nicht nur die Folge von Armut, die zu Verfallssituationen führt, sondern der Bevölkerungsdruck ist die Folge besser ausgebildeter, junger Generationen gegenüber Zeiten von vor 30 Jahren, die durch die Kommunikationsmittel viel intensiver verknüpft sind – auch mit dem Lebensstil, den wir hier für selbstverständlich halten und die eine Verbesserung ihrer Lebenschancen wünschen. Solange diese Verbesserung bei ihnen zu Hause nicht berechenbar möglich ist, wird es den jetzt allseits sichtbaren Migrationsdruck auf Europa geben.

AKUT   Wo Sie gerade auf Migration und Flüchtlinge zu sprechen kommen: Auf welcher politischen Seite wünschen Sie sich da mehr Engagement?

KÜHNHARDT   Vor dem Engagement steht die Analyse und ich glaube, da haben wir alle in Europa ein Defizit. Bei dem Themenkomplex der Erleichterung legaler Migration, bei gleichzeitiger Bekämpfung der illegalen und kriminellen Schleppervorgänge, die wir erleben und die zu diesen vielen tragischen Todesopfern im Mittelmeer führen, findet kaum eine Auseinandersetzung mit den Ursachen statt. Mit den Ursachen an den Orten, wo Menschen das Recht und die Sehnsucht haben, die gleichen Lebenschancen zu haben, wie wir sie hier in Europa für selbstverständlich halten. Das ist ein Versäumnis der öffentlichen Diskussion in Europa und dies zu ändern ist eine Aufgabe, eine Verantwortung, aller – in allen Parteien, in den Medien – und aller die an den öffentlichen Diskursen teilnehmen – einschließlich der Wissenschaftler.

AKUT   EU-Skeptiker sagen ja, es gäbe eine solche europäische Identität gar nicht. Sehen Sie das auch als Utopie an?

KÜHNHARDT   Das Motto der EU heißt Einheit in Vielfalt. Die europäische, kulturell gewachsene Identität ist eben pluralistisch, die durch nationale, regionale, kulturelle  und viele andere Faktoren bestimmt ist. Mit Bezug auf die politische Identität in Europa hat die EU unterdessen sehr viele Beiträge geleistet, Beiträge, um eine Form der politischen Identität zu bilden, die es erlaubt, dass gemeinsame europäische Institutionen handlungsfähige Antworten und Lösungen geben auf die Fragen die uns alle miteinander berühren, ganz unabhängig von der Frage unserer spezifischen kulturellen Identität. Das ist ein Weg, den man weiter beschreiten wird müssen, wenn dieses europäische Projekt weiter vorankommen soll. Es geht nicht um die Erstellung einer vereinheitlichten, nivellierten kulturellen Identität. Wir werden in 50 Jahren und vermutlich auch in 500 Jahren noch bayerische Schuhplattler haben und Menschen, die auf der anderen Seite der Straße Auto fahren als andere, unterschiedliche Frühstücksgewohnheiten haben und unterschiedliche religiöse und kulturelle Überzeugungen sowie verschiedene Sprachen – all das wird sich nicht vereinheitlichen. Aber es ist mit der EU ein Bewusstsein gewachsen, dass es neben dieser kulturellen Vielfalt auch um eine politische Identität geht. Beides sollte man in der Analyse tunlichst voneinander trennen. Gerade auch die Beiträge vieler Kolleginnen und Kollegen in der Politischen Wissenschaft, die zu diesem Thema arbeiten, geben Hinweise darauf, dass wir es hier mit einer sich im Wandel befindlichen, nicht perfekten politischen Identität zu tun haben, die gleichwohl in der Lage ist, diesem Kontinent kultureller Vielfalt ein einheitliches institutionelles und konstitutionelles Gefüge und Gesicht zu geben.

AKUT   Hatten Sie bei Ihrem persönlichen Werdegang ein Vorbild?

KÜHNHARDT   Maßstabsetzer würde ich sagen, nicht Vorbilder. Das ist etwas Unterschiedliches. Einem Vorbild eifert man nach, wie einem Fußballspieler, weil man auch mal in der Nationalmannschaft spielen möchte. Ich habe eher versucht, mich mit Maßstäben auseinanderzusetzen, wissend, dass ich sie niemals erreichen werde. Aber sie halfen mir, meinem Leben einen Kompass zu geben. Jesus mit seiner Botschaft der Liebe, Mahatma Gandhi mit seiner Botschaft der Gewaltlosigkeit, Martin Luther King mit seiner Botschaft der Versöhnung, Mutter Theresa mit ihrer Botschaft der Barmherzigkeit – das waren Maßstabgeber in meiner Jugend, die mich auch bei der Frage, wer mich in der Politik beeindruckt hat, wieder nach Leuten haben schauen lassen, die ich auf ähnliche Weise als Maßstabsetzer empfunden habe. Jimmy Carter gehört dazu, der sehr unterschätzte amerikanische Präsident mit seinem Menschenrechtsengagement, um nur einen zu nennen aus einer großen Zahl von Menschen, zu denen auch Nelson Mandela gehört, den ich sogar einmal kennen lernen durfte, kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in Südafrika. Solche Menschen und ihr Lebenswerk haben mich nicht als Vorbild inspiriert, um ihnen nachzueifern in ihrem konkreten Anliegen, sondern sie haben mich nach Maßstäben fragen lassen, die ich auf eine ganz bescheidene Weise in meinen eigenen Lebensweg mit hineinzunehmen versucht habe und weiter versuche.

AKUT   Mandela war sicher eine beeindruckende Person.

KÜHNHARDT   Zu Mandela muss ich Ihnen eine lustige Geschichte erzählen. Nelson Mandela war natürlich um Lichtjahre bedeutsamer, aber auch einen guten Zentimeter länger als ich. Ich wurde ihm vorgestellt, er sah mich an und fragte mich: »Sind alle Deutschen so groß?« Ich fragte ihn: »Wie kommen Sie darauf?«, und er sagte: »Ja, ich habe gerade vor einer Woche Helmut Kohl getroffen und der war ja auch so groß«. Da habe ich ihm gesagt: »Erstens reden wir hier, jedenfalls in meinem Fall, nur von Länge; zweitens sind Sie auch nicht klein gewachsen und drittens ist Bundeskanzler Kohl bestimmt mindestens so breit wie wir beide zusammen – es gibt also vielerlei Unterschiede.« Da hat er laut gelacht.

AKUT   Von den vielen Personen, die Sie als ihre Maßstabsetzer ansehen – gibt es ein Zitat, welches Sie besonders inspiriert hat?

KÜHNHARDT   Als ich als junger Student die Ehre hatte, Mutter Theresa zu treffen, da habe ich versucht ihr die Welt zu erklären. Ich dachte, ich weiß schon alles und hab da so eine klare Vorstellung, wie sich die Armut in Indien überwinden lässt. Da hat sie mich schnell auf den Teppich zurückgeholt. Sie sagte mir, ich solle das mit Indien erst mal sein lassen und mich zunächst um mein eigenes Leben kümmern, einfach dort, wo mich der liebe Gott hingestellt hat. Den größten Beitrag zu einer besseren und menschlicheren Welt können wir dort leisten, so sagte sie mir, wo wir uns im Leben hingestellt finden. Das war ein Gedanke, der mich damals sehr beeindruckt hat. Und auch heute kommt er mir  noch immer wieder in den Sinn, wenn ich unzufrieden bin mit irgendwelchen Dingen, die ich sowieso nicht ändern kann.

Und vielleicht sehen wir viel zu leichtfertig über die Chancen hinweg, die sich jeweils in eben der Situation ergeben, in die wir gerade hineingestellt werden. Das ist auch für heutige Studierende vielleicht ein guter Gedanke.  Die Situation, in der wir stehen, so ernst zu nehmen, wie sie ist, und das Beste daraus zu machen, denn genau dadurch leisten wir einen Beitrag für eine bessere Welt.  

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